Gerecht, digital, nachhaltig! Interdisziplinäre Perspektiven auf Lehr- und Lernprozesse in der digitalen Welt

Herausgegeben von Uta Hauck-Thum, Jana Heinz und Christian Hoiß

Bitte reichen Sie Abstracts bis zum 30. September 2021 unter https://www.medienpaed.com/about/submissions ein. Dort finden sie auch Hinweise zur formalen Gestaltung.

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Thema

In diesem Themenheft (und Tagung) fragen wir nach den Verknüpfungen zwischen Nachhaltigkeit und Bildungsgerechtigkeit in der Kultur der Digitalität. Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsdebatten sowie die Bedeutung von Bildung für die Umsetzung dieser Ansprüche wurden bereits recht früh zusammen gedacht. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Brundtland-Report (WCED 1987). Während Umwelt- und Entwicklungsinteressen lange Zeit als Gegensätze verstandenen wurden, wurden beide Problemdimensionen im Rahmen des Leitbilds «nachhaltiger Entwicklung» in einer für die weitere internationale Debatte entscheidenden Weise zum ersten Mal systematisch miteinander verknüpft. Das gelang durch zwei diskursive Verschiebungen: Zum einen wurde das dahin auf die Nutzung von Umweltressourcen fokussierte Nachhaltigkeitskonzept in ein auf die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse (heutiger und zukünftiger Generationen) bezogenes Nachhaltigkeitsverständnis transformiert. Zum anderen wurde das Konzept der ‹ökologischen Grenzen wirtschaftlichen Wachstums› in ein Konzept der ‹Grenzen bisheriger Technologien und gesellschaftlicher Organisationsformen› für nachhaltige Wirtschafts- und Lebensformen umdefiniert. Daraus ergab sich die Forderung nach einer ökologischen Modernisierung von Technologie, Wirtschaft und Konsum und nach einem effizienten, globalen Ressourcenmanagement, um ein «nachhaltiges Wachstum» zu ermöglichen (vgl. Brand 2021). Auch wenn das im Konzept nachhaltiger Entwicklung zunächst implizierte lineare, eurozentrische Verständnis von (kapitalistisch-industrieller) Entwicklung und die Fokussierung auf Wachstum inzwischen von vielen Seiten in Frage gestellt wird, so gilt es seither doch als unverzichtbar, Umwelt- und Gerechtigkeitsprinzipien als konstitutive, eng miteinander verknüpfte Elemente einer zukunftsfähigen Entwicklung zu thematisieren.

Die Verschränkung zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung hingegen wird erst seit kurzem diskutiert (vgl. WBGU 2019). Der Prozess der Digitalisierung hat sich in den vergangenen 20 Jahren in einer beispiellosen Breite und Tiefe vollzogen. Er beeinflusst sämtliche wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Systeme in profunder Weise und «entfaltet eine immer größere transformative Wucht, die den Menschen, die Gesellschaften und den Planeten zunehmend fundamental beeinflusst und daher gestaltet werden muss» (WBGU 2019, 1). Als wesentlicher Bestandteil globaler Beschleunigungsprozesse ist ein «neuer kultureller Möglichkeitsraum» (Stalder 2021) entstanden, der im Wesentlichen durch digitale Medien geprägt ist. Felix Stalder bringt den Begriff der Digitalität als kulturelle Rahmung in den Diskurs ein: Digitalität entspricht nicht dem Verständnis von Digitalisierung im Sinne technologischer Entwicklung, der Erfassung und Speicherung von Daten oder der Automatisierung von Abläufen. Vielmehr bezieht sie sich auf kulturelle und gesellschaftliche Realitäten und Lebensformen, die mit der Digitalisierung einhergehen und diese im Wechselspiel wiederum ermöglichen (Hauck-Thum und Noller 2021). Die Konturen der Kultur der Digitalität gerade auch für den Bildungsbereich zu bestimmen, stellt eine neue und zugleich kontinuierliche Aufgabe dar, da die ihr zugrundeliegenden Prozesse noch nicht in Gänze bekannt sind und einem stetigen, dynamischen und radikalen Wandel unterliegen, der nicht nur sämtliche kulturelle Dimensionen umfasst, sondern auch das Verständnis von Kultur an sich verändert.

Ausgehend von einem Kulturbegriff, der «nicht nur kulturelle Vielfalt und die Künste meint, sondern die ganze Lebensweise von Menschen im Netzwerk und Austausch mit ihrer Umwelt, ihren Gebrauch semiotischer Systeme und Medien sowie ihre Konstruktion von Welt und Werten» (Rippl 2019, 316), verändern sich auch Bildungserfahrungen grundlegend. Sie werden nicht länger mit regulierbaren und individualisierten Lernprozessen gleichgesetzt, sondern sie erwachsen aus gemeinschaftlichen Prozessen. Durch die fortschreitende Digitalisierung ist soziales Handeln zunehmend in komplexe Technologien eingebunden. Gemeinschaften in Form sozialer Netzwerke und Plattformen gewinnen an Bedeutung und generieren neue kulturelle und sozial- kommunikative Praktiken, die sich wechselseitig konstituieren. Die diesem Prozess inhärente Kreativität und Produktivität gilt «in vielfältiger Weise als relevant in Bildungsprozessen» (Allert und Asmussen 2017, 32). Entsprechende Praktiken spielen an Schulen aber kaum eine Rolle, da digitale Medien hier lediglich zu den traditionellen hinzutreten. In der Kultur der Digitalität benötigen Kinder und Jugendliche jedoch weit mehr als Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien, sondern vielmehr auch Räume und Gelegenheiten zur kreativen und produktiven Auseinandersetzung mit relevanten Zielen, Themen und Methoden sowie zum wechselseitigen Austausch mit menschlichen und technischen Aktanten. Wird im Rahmen veränderter Lehr- und Lernprozesse verstärkt an das subjektive Bildungswissen von Kindern angeknüpft (Dahlhaus 2011), das in grossem Umfang aus informellen digital geprägten Umgebungen erwächst, erhöhen sich Gelegenheiten zur Bildungsteilhabe und herkunftsspezifische Bildungsungleichheiten können damit verringert werden (Heinz 2018). Diese neuen, digitalen Bildungserfahrungen werden vor allem dann bedeutsam, wenn es gelingt, mit ihnen die Grundlage für eine neue, dringend benötigte Handlungsfähigkeit zu legen.

Obwohl die Verantwortung des Bildungsbereiches im Kontext von Gerechtigkeit und nachhaltiger Entwicklung kaum mehr infrage gestellt wird, bleibt indes noch ungelöst, wie Bildungsprozesse gerecht und nachhaltig gestaltet werden können (vgl. WBGU 2019). Angesichts eines aufgeheizten Diskurses über Bildungsgerechtigkeit, der nicht zuletzt im Kontext der COVID-19 Pandemie mit Blick auf digital gestütztes Distanzlehren und -lernen geführt wird, gilt es, Begrifflichkeiten zu schärfen und Antworten auf Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsfragen in der Kultur der Digitalität zu formulieren.

In Anlehnung an das Leitbild nachhaltiger Entwicklung skizziert der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Gutachten «Unsere gemeinsame digitale Zukunft» (2019) in diesem Sinne das Konzept einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft. Nur wenn es gelänge, die digitalen Umbrüche in Richtung Nachhaltigkeit auszurichten, könne eine Nachhaltigkeitstransformation gelingen. Andernfalls drohe Digitalisierung «als Brandbeschleuniger von Wachstumsmustern zu wirken, die die planetarischen Leitplanken durchbrechen» (WBGU 2019, 1). In diesem Zusammenhang ist also in grundsätzlicher Weise zu klären, ob bzw. wie eine Kultur der Digitalität mit einer Kultur der Nachhaltigkeit in Einklang gebracht werden kann und wie das in Bildungskontexten zu reflektieren ist. Es kann dabei nicht darum gehen, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern Risiken und Potenziale auszuloten und transformative Pfade zu finden.

Offenkundig sind derartige Vorstellungen von Bildung an ethisch-normative Leitbilder geknüpft, die kontextuell immer wieder neu zu verhandeln sind und deren Zusammenspiel es in der Kultur der Digitalität noch zu klären gilt. Ihre Verknüpfungen sind von zahlreichen Dilemmata geprägt, denn Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit verfolgen vielfach unterschiedliche, teils kaum zu vereinbarende Zielhorizonte und Interessen. Letztendlich bestimmt aber der Faktor Kultur, «welchen Typus einer nachhaltigen Gesellschaft man schaffen möchte» (Johns-Putra et al. 2017, 4) und welche «moralischen, ethischen und sozialen Optionen bestehen, um die ausgehandelten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen» (Rippl 2019, 315). Das interdependente Verständnis von Nachhaltigkeit, Digitalität und Gerechtigkeit als Ausgangspunkt und Ziel schulischer Transformationsprozesse wird für Bildungsinstitutionen zur zentralen Aufgabe, der aufgrund ihrer Komplexität nur interdisziplinär begegnet werden kann.

 

Beiträge

Die folgenden Forschungsfragen verdeutlichen beispielhaft mögliche wissenschaftliche Perspektiven auf die hier skizzierten Verschränkungen zwischen Nachhaltigkeit, Bildungsgerechtigkeit und Digitalität:

  • Wie können Bildungserfahrungen gerecht und nachhaltig gestaltet werden?
  • Wie kann die enge Korrelation zwischen Bildungserfolg und sozioökonomischer Herkunft unter Berücksichtigung informell erworbener digitaler Kompetenzen der Kinder und digitaler Lehr- und Lernformen in Schulen aufgebrochen werden?
  • In welchem Zusammenhang stehen Nachhaltigkeit und Bildungsgerechtigkeit im Rahmen schulischer Transformationsprozesse in der Kultur der Digitalität?
  • Welche Rolle spielen Partizipation und Teilhabe in diesen Transformationsprozessen und wie lassen sie sich konkret umsetzen?

 

Einreichung und Ablauf

Dieser Call lädt zu empirischen und theoretischen Beiträgen in einem dreistufigen Verfahren ein:

  • Abstracts möglicher Beiträge im Umfang von mind. 500 Wörtern mit Angabe von fünf bis sechs Keywords und einer kurzen biografischen Information. Die Abstracts durchlaufen ein editorial peer-review Verfahren.
    Einreichung bis 15. September 2021 via: https://www.medienpaed.com/about/submissions
  • Ausarbeitung der Abstracts zu vorläufigen Manuskripten: Im Mai 2022 findet an der Ludwig-Maximilians-Universität in München die Tagung zum Thema statt. Diese dient der Sammlung interdisziplinärer Perspektiven auf grenzüberschreitende und zukunftsgerichtete Prozesse des Lehrens und Lernens in der Kultur der Digitalität, die Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsfragen gleichermassen betreffen. Die Tagung bietet Raum für den Austausch über zentrale, hier aufgeworfene Fragen und die Möglichkeit, die interdisziplinären Verschränkungen der einzelnen Beiträge auszuloten. Die Manuskripte sollen zur Tagung zur Verfügung stehen und dort diskutiert werden.
  • Überarbeitung der vorläufigen Manuskripte, Einreichung der Volltexte: Im Anschluss an die Tagung werden die Manuskripte durch die Autorinnen und Autoren gegenseitig panelweise im offenen peer-review Verfahren begutachtet und kommentiert. Damit sollen die Diskussionen und Erfahrungen der Tagung in die Begutachtung und in die anschliessende Überarbeitung einfliessen.

Die Veröffentlichung des Themenheftes ist für Ende des Jahres 2022 geplant.

Bei den eingereichten Artikeln in Deutsch muss es sich um Originalbeiträge beziehungsweise Erstveröffentlichungen handeln. Wissenschaftliche Beiträge (Manuskripte und Volltexte) sollten ungefähr 40.000 Zeichen (mit Leerzeichen, ohne Abstract und Literaturverzeichnis) umfassen. Ein Abstract von 150-200 Wörtern fasst die zentralen Aussagen und Ergebnisse kurz zusammen. Sowohl Titel wie Abstract müssen in deutscher und englischer Sprache vorliegen und zusammen mit dem Artikel eingereicht werden. Es gelten die Richtlinien für Autorinnen und Autoren: https://www.medienpaed.com/about/submissions#authorGuidelines.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Transparenz ermutigen wir alle Forscherinnen und Forscher, ihre Forschungsdaten (z. B. Software, Datensätze, verwendete Fragebögen) mit der Einreichung zur Verfügung zu stellen.

Einreichung via: https://www.medienpaed.com/about/submissions.

 

Zeitplan
  • Einsendung der Abstracts für Beitrag und Vortrag: 30. September 2021
  • Rückmeldung zu den Abstracts durch die Herausgebenden: 15. Oktober 2021
  • Abgabetermin der Manuskripte (entsprechend den formalen Vorgaben): 30. März 2022
  • Tagung/Workshops: Ende Mai 2022 an der Ludwig-Maximilians-Universität, München
  • offenes Peer-Review: Juni 2022
  • Überarbeitung bis ca. Mitte August 2022
  • Veröffentlichung bis ca. November 2022

 

Herausgebende
  • Uta Hauck-Thum (Ludwig-Maximilians-Universität, München)
  • Jana Heinz (Deutsches Jugendinstitut e.V.)
  • Christian Hoiß (Ludwig-Maximilians-Universität, München)

 

Literatur

Allert, Heidrun, und Michael Asmussen. 2017. «Bildung als produktive Verwicklung». In Digitalität und Selbst: interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse, herausgegeben von Heidrun Allert, Michael Asmussen, und Christoph Richter, 27–68. Pädagogik. Bielefeld: Transcript. https://doi.org/10.14361/9783839439456-004.

Brand, Karl-Werner. 2021. «‹Große Transformation› oder ‹Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit›? Wider die Beliebigkeit sozialwissenschaftlicher Nachhaltigkeits- und Transformationstheorien». Leviathan 49 (2): 189–214. https://doi.org/10.5771/0340-0425-2021-2-189.

Dalhaus, Eva. 2011. «Bildung zwischen Institution und Lebenswelt. Zur Differenz von lebensweltlicher Bildungspraxis und schulischer Leistungsanforderung». ZSE: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 31 (2): S. 117-135.

Hauck-Thum, Uta, und Jörg Noller, Hrsg. 2021. Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven. Digitalitätsforschung / Digitality Research. Berlin: J.B. Metzler.

Heinz, Jana. 2018. «Die Verbindung informellen und formellen digitalen Lernens in Grundschulen». In Informelles Lernen, herausgegeben von Nina Kahnwald, und Vicki Täubig, 107–23. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15793-7_7.

Johns-Putra, Adeline, John Parham, und Louise Squire, Hrsg. 2017. Literature and Sustainability: Concept, Text and Culture. Manchester: Manchester University Press. http://bibpurl.oclc.org/web/84992.

Kluwick, Ursula, und Evi Zemanek, Hrsg. 2019. Nachhaltigkeit interdisziplinär. Konzepte, Diskurse, Praktiken: ein Kompendium. utb Kulturwissenschaft. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag.

Rieckmann, Marco. 2017. Education for Sustainable Development Goals: Learning Objectives. [Paris]: UNESCO. https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-08/unesco_education_for_sustainable_development_goals.pdf.

Rippl, Gabriele. 2019. «Kulturwissenschaft». In Nachhaltigkeit interdisziplinär. Konzepte, Diskurse, Praktiken: ein Kompendium, herausgegeben von Ursula Kluwick, und Evi Zemanek, 312–29. utb Kulturwissenschaft. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag.

Stalder, Felix. 2016. Kultur der Digitalität. 1. Aufl. Edition Suhrkamp 2679. Berlin: Suhrkamp.

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. 2019. Unsere gemeinsame digitale Zukunft: Zusammenfassung. [1. Auflage]. Berlin: WBGU. https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2019/pdf/WBGU_HGD2019_Z.pdf.

World Commission on Environment and Development. 1987. Report of the World Commission on Environment and Development : «Our common future». Oxford: Oxford University Press. https://digitallibrary.un.org/record/139811.