Homo digitalis. Neue Fragestellungen der Medienpädagogik aus anthropologischer Perspektive

Herausgegeben von Manuela Pietraß und Jörg Zirfas

Bitte reichen Sie Abstracts bis zum 31. Oktober 2021 unter https://www.medienpaed.com/about/submissions ein. Dort finden sie auch Hinweise zur formalen Gestaltung.

Call for Papers als PDF

Thema

Die anthropologische Frage nach der Stellung des Menschen sucht durch die Digitalisierung nach neuen Antworten – ist der Mensch als homo digitalis neu zu begreifen und ist mit ihm anders pädagogisch umzugehen?

Die Digitalisierung stellt eine besondere Form der Veränderung der Grundlagen von Erfahrung und Welterkenntnis dar und damit ist sie von pädagogischer Relevanz. Die Anthropologie liefert einen Zugang, dessen Bedeutung in ihrer durch die Frage nach dem Menschen übergreifenden Positionierung liegt. Aufgrund ihrer vielfältigen interdisziplinären Zugangsweisen und auch aufgrund ihrer unterschiedlichen anthropologischen Hinsichten kann die Medienpädagogik aus der Anthropologie wichtige Einsichten und Perspektiven gewinnen, welche sie selbst nur unzureichend beibringen und klären könnte. Die mit der Digitalisierung bzw. den digitalen Gütern bezeichneten Veränderungen der Wissens- und Kommunikationsprozesse führen nicht nur zu einem tiefgreifenden Wandel in Kultur, Politik, Gesellschaft und Bildung, sondern auch zu einer Neufassung des Menschen, der sich lebenslang mit diesen Entwicklungen beschäftigen wird; die Datafizierung, die Distribuierung von Informationen, die Technologien von Computer und Internet, Lern- und Entwicklungssoftware sowie künstliche Intelligenz und Robotik werden wichtige Auswirkungen auf Bildungs-, Sozialisations- und Unterrichtsprozesse haben. Dabei erscheint sowohl eine medienpädagogische wie eine pädagogisch-anthropologische Forschung zwingend erforderlich, die nicht nur die negativen Aspekte Überwachung, Kontrolle, Disziplinierung, Manipulation, fake news, sondern auch die positiven Aspekte der Vernetzung, Demokratisierung, Diskurse, Globalisierung im Kontext der Bildung, Sozialisation und des Unterrichts in den Blick nimmt (vgl. Bilstein, Winzen, und Zirfas 2020).

Mit dem Digitalen ändert sich die Komplexität der menschlichen Verfasstheit in vielfacher und teilweise wohl auch in radikaler Weise: Die leiblich-geistige Einbettung des Menschen in der Welt wird durch die Digitalisierung verändert, weil sie neue Formen der Erfahrung und der Erkenntnis ermöglicht. Mit der Digitalisierung sind, wie weiter unten erklärt, ähnlich wie bei der Mediatisierung, umfassende Veränderungen nicht nur der individuellen Erfahrbarkeit von Welt, sondern der Evolution von Erkenntnis schlechthin mitbetroffen (vgl. Ferrin 2013; Pietraß 2020). Die soziale Verfasstheit des Menschen wird tangiert, weil durch sie neue – etwa netzbasierte – Formen des Sozialen entstehen. Die räumlichen Strukturen des Humanen entgrenzen und verdichten sich gleichzeitig, seine zeitlichen Strukturen beschleunigen sich und werden gleichzeitig einer Präsenzlogik unterworfen. Immer stärker rückt auch die Bildlichkeit bzw. Bildschirmhaftigkeit des Menschen in den Blick – was wiederum erkennbare Auswirkungen auf die Selbst- und Weltwahrnehmung hat (vgl. Daryan 2017). Nicht zuletzt tangiert die Digitalisierung auch die Identität des Menschen, sein Selbstverständnis und seinen Selbstentwurf, da er sich nun mit einem ‹digitum› (Finger) gänzlich neue Welten gestalten kann. Für die Medienpädagogik relevant sind dabei jene digitalen Anwendungen, die medienartige Entwicklungen darstellen und über bildschirmgetragene Interfaces vermittelt werden. Wie im ganzen Prozess der Technisierung wird durch die Digitalisierung Wirklichkeit sozusagen ‹unterworfen› und ihrer «Füllen» beraubt (Husserl 1982). So werden in den digitalen Wirklichkeiten Weisen der Überwindung des «Hiatus zwischen Geist und Leiblich-Seelischem zu der nur als vermittelt zugänglichen Wirklichkeit» (Pietraß 2019) konstituiert. Gleichzeitig entstehen aber wiederum andere wirklich-virtuelle bzw. virtuell-wirkliche Welten mit neuen Handungs-, Spiel- und Experimentierräumen, neuen Formen der Identität und Gemeinschaft und neuen kulturellen Peformativitäten und Symboliken (vgl. Jörissen 2007).

Beiträge

Im vorliegenden Call for Abstracts geht es um Phänomene solcher medienartigen digitalen Technologien, die mit Hilfe von Bildschirmen und Eingabegeräten funktionieren und bei denen mit Zeichen auf Bildschirmen interagiert wird. Die Digitalisierung ist als eine weitere Stufe der «Technisierung» (Luhmann 2017) zu verstehen. Technisierung als digitale Konstitution der erfahrbaren Welt zu klären – hier ist der Gedanke der Medialität des Digitalen angesiedelt.

Die Frage nach dem homo digitalis verlangt einen doppelten Zugriff: Zum einen gilt zu klären, wie sich Welt durch die Digitalisierung verändert, zum anderen ist zu klären, welche Bedeutung man ihr aus anthropologischer Sicht gibt und inwiefern sie anthropologische Sachverhalte tangiert. Zur Klärung der Welt- und Selbstveränderung können, in Anlehnung an Hubwieser (2018), drei Kontexte von Digitalisierung unterschieden werden (vgl. Pietraß 2019, 140f.):

  • Auf der Mikroebene geht es um die Interaktionen der Nutzenden mit digitaler Technik, genauer Software. Solange eine solche Software keine Vernetzung mit anderen Individuen oder datenverarbeitenden Systemen unterhält, besteht ein interaktives und geschlossenes System zwischen Nutzer und Angebot, ähnlich wie ein Buch, das, wenn man es schliesst, keine direkte Wirkung durch das in ihm enthaltene, noch ungelesene ‹Wissen› entfaltet.
  • Wenn die von einem Individuum mit einer Maschine vorgenommenen Interaktionen nicht nur geschlossen verwendet werden, sondern die vom Nutzer generierten Aktionen als Daten gespeichert werden, die anderen digitalen Prozessen zur Verfügung gestellt werden, dann entstehen Folgen der Digitalisierung auf Mesoebene. Das Individuum wird über Softwareapplikationen sozial vernetzt; es wird beobachtbar, kann sich aber auch selbst beobachten (wie bei Gesundheits- oder Sportapps).
  • Übertragen auf die Digitalisierung und deren besonderen Vermittlungscharakter gehört zum Verstehen der Technik «nicht nur der Geist, der die Technik bewirkt, sondern auch der, den sie bewirkt» (Blumenberg 2009, 78). Dieser Geist kann in Wissensobjektivationen aufgespürt werden, z. B. in der Medizin oder an der Schnittstelle zu einem Autopiloten.

Diese drei Kontexte vergegenwärtigen, wie weitreichend «die Veränderung der Erfahrung der erfahrbaren Welt» (Schnell und Dunger 2019) durch die Digitalisierung ist. Auf ihrem Boden kann nun die Frage gestellt werden, wie aus anthropologischer Perspektive die Digitalisierung zu verstehen ist, inwiefern der Mensch in ihr Mass und inwiefern ‹Vermessener› ist?

Folgende Fragestellungen sind für die gewünschten Beiträge – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – denkbar:

  1. Deutung von Veränderungen des mit digitalen Medien kommunizierenden Menschen aus einer anthropologischen Perspektive: Werden z. B. mit Blick auf die Vernetzung durch soziale Medien, mit Blick auf neue Formen von mediengetragener Empathie und gegenseitiger Hilfestellung, neue Facetten von Sozialität erkennbar?
  2. Veränderung pädagogischer Phänomene und Prozesse durch die Digitalisierung: Wie stellen sich Formen digital gestützten Lernens und Bildung aus anthropologischer Perspektive dar, z. B. mit Blick auf Begriffe wie Erfahrung, Handeln, Leiblichkeit?
  3. Die geistige und leiblich-geistige Vermitteltheit menschlichen Weltverhältnisses unter der Medialität des Digitalen: Welche Bedingungen werden durch Phänomene des Digitalen aus anthropologischer Sicht gesetzt, z. B. mit Blick auf eine Quantifizierung des Welt- und Selbstverhältnisses?
  4. Der Vermittlungscharakter von Medien ist eine Form der Realisierung des sinnlich-geistig vermittelten Weltverhältnisses: Inwieweit bieten digitale Medienwelten neue Erfahrungsräume, die es verlangen, dass anthropologische Erklärungsmuster für Sinne, Leiblichkeit, Erleben, Erfahrung neu konzipiert werden müssen?

Es sind Beiträge mit einem Schwerpunkt auf einer medienpädagogisch-anthropologischen Ausdeutung digitaler Phänomene gefragt. Ziel ist es, mit diesem Themenheft eine kaum etablierte Perspektive darauf hin zu befragen, inwieweit sie das Zusammenspiel von Hardware, Software, Mensch und Bildung reflektieren und diskutieren kann. Das könnte u. a. den Effekt haben, dass man in Zukunft nicht allein empirische Daten zum Digitalen sammeln, sondern gleichzeitig auch mit Hilfe pädagogisch-anthropologischer Bestimmungen reflektieren kann; dann wird zudem deutlich, welche Kategorien die empirische Untersuchung digitaler Phänomene benötigt, um die erhobenen Daten auch zu verstehen. Oder es könnte auch dazu beitragen, Aspekte einer vorschnellen Digitalisierung der Bildung kritisch zu beleuchten, weil die mit ihr verbundenen anthropologischen ‹Kosten› als zu problematisch eingeschätzt werden können.

Der Call ist interdisziplinär ausgerichtet. Willkommen sind ebenfalls Beiträge aus benachbarten Gebieten der Medienpädagogik, insbesondere der Pädagogischen Anthropologie, aber auch der Sportpädagogik, der Sonderpädagogik u. a., sofern der Medienbezug als Basis des jeweils betrachteten Phänomens explizit berücksichtigt wird.

Die Beiträge unterliegen einem Herausgebendenreview, ggfs. unter Zuzug weiterer Gutachtender.

Best Paper Award

Der beste Beitrag wird mit einem Preis ausgezeichnet: Eine Jury, bestehend aus den Herausgebenden und ggfs. weiteren ausgewählten Personen, wählt diesen Beitrag aus (eingeladene Beiträge sind vom Preisausschreiben ausgenommen). Dieser Beitrag wird mit einem einmaligen Preis von 500 Euro auf der Frühjahrsjahrstagung der Sektion Medienpädagogik 2023 prämiert. Die Ausschreibung richtet sich auch an den wissenschaftlichen Nachwuchs. Gestiftet wird der Preis für einen herausragenden theoretischen Beitrag zu den anthropologischen Grundlagen der Medienpädagogik aus Mitteln der Sektion Medienpädagogik. Er steht zudem in Zusammenhang mit der Sektionstagung 2015 «Digitaler Raum – digitale Zeit. Form und Veränderung grundlegender Kategorien von Erfahrung und ihre Bedeutung für die Medienpädagogik» an der Universität der Bundeswehr München.

Einreichung

Dieser Call lädt vor allem zu theoretischen Beiträgen in einem zweistufigen Verfahren ein:

  • Abstracts möglicher Beiträge im Umfang von maximal 5000 Zeichen inkl. Leerzeichen (ohne Literatur). Die erste Seite des Abstracts ist mit Namen und Kontaktadresse zu versehen sowie dem Titel des Beitrags, auf der zweiten Seite den Titel des Beitrags wiederholen. Die Abstracts durchlaufen ein Herausgebendenreview (editorial peer-review). Einreichung von Abstracts bis 31. Oktober 2021 via: https://www.medienpaed.com/about/submissions. Die Herausgeberinnen und Herausgeber benachrichtigen über die vorläufige Annahme des Beitrags bis 30. November 2021.
  • Angenommene Volltexte sind bis zum 30. September 2022 einzureichen und durchlaufen anschliessend ein Herausgebendenreview, ggfs. unter Zuzug weiterer Gutachtender. Bei den eingereichten Artikeln in Deutsch muss es sich um Originalbeiträge beziehungsweise Erstveröffentlichungen handeln. Wissenschaftliche Beiträge (Volltexte) sollten ungefähr 40.000 bis 45.000 Zeichen (mit Leerzeichen, ohne Abstract und Literaturverzeichnis) umfassen. Ein Abstract von 150-200 Wörtern fasst die zentralen Aussagen und Ergebnisse kurz zusammen. Sowohl Titel wie Abstract müssen in deutscher und englischer Sprache vorliegen und zusammen mit dem Artikel eingereicht werden. Es gelten die Richtlinien für Autorinnen und Autoren: https://www.medienpaed.com/about/submissions#authorGuidelines.
Ablauf

Bis 31. Oktober 2021: Einreichung von Abstracts im Umfang von maximal 4000 Zeichen inkl. Leerzeichen (ohne Literatur)

Bis 30. November 2021: Rückmeldung

Bis 30. Oktober 2022: Abgabe der Beiträge

Bis 30. November 2022: Rückmeldung über das Ergebnis der Begutachtung (Annahme, Überarbeitung, Ablehnung)

Bis 31. Januar 2023: Eventuelle Überarbeitung der Beiträge

Frühjahr 2023: Erscheinen der Beiträge in einem Themenheft der Zeitschrift MedienPädagogik.

Herausgeberin und Herausgeber

Pietraß, Manuela, Dr. phil. habil., Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Medienpädagogik im Institut für Bildungswissenschaft an der Universität der Bundeswehr München. Vorsitzende des Erziehungswissenschaftlichen Fakultätentag. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der (Medien-)Bildung und Lerntheorie; Epistemologie der Medien; Erfahrung und Bildung mit Medien; Allgemeine Didaktik und Mediendidaktik.

Zirfas, Jörg, Dr. phil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie im Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Vorsitzender der Kommission Pädagogische Anthropologie (DGfE) und der Gesellschaft für Historische Anthropologie an der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungsphilosophie und Psychoanalyse, Kulturpädagogik und Ästhetische Bildung, Qualitative Bildungs- und Sozialforschung; jzirfas@uni-koeln.de.

Literatur

Bilstein, Johannes, Matthias Winzen, und Jörg Zirfas, Hrsg. 2020. Pädagogische Anthropologie der Technik: Praktiken, Gegenstände und Lebensformen. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11683-5.

Blumenberg, Hans. 2009. Geistesgeschichte der Technik. Herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Frankfurt: Suhrkamp.

Daryan, Nika. 2017. Bildung in Bildern – eine Mediologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa.

Ferrin, Nino. 2013. Selbstkultur und mediale Körper. Zur Pädagogik und Anthropologie neuer Medienpraxen. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/transcript.9783839425053.

Husserl, Edmund. 1982. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Zweite, verbesserte Auflage. Hamburg: Meiner.

Hubwieser, Peter. 2018. «Informatische Bildung und Medienerziehung». merz 4/2018, 19-26.

Jörissen, Benjamin. 2007. Beobachtungen der Realität. Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839405864.

Luhmann, Niklas. 2017. Systemtheorie der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.

Pietraß, Manuela. 2019. «Bildung. Im Hiatus zwischen digitaler Technik und Lebenswelt». In Digitalisierung der Lebenswelt. Studien zur Krisis nach Husserl, herausgegeben von Martin W. Schnell und Christine Dunger, 133–52. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. https://doi.org/10.5771/9783748906490-133.

Pietraß, Manuela. 2020. «Bildung in Bewegung. Das neue Lernpotenzial digitaler Medien». In Bewegungen. Beiträge zum 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, herausgegeben von Isabell van Ackeren, Helmut Bremer, Fabian Kessl, Hans Christoph Koller, Nicolle Pfaff, Caroline Rotter, Dominique Klein, und Ulrich Salaschek, 325–36. Schriften der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Opladen; Berlin; Toronto: Verlag Barbara Budrich. https://doi.org/10.25656/01:19251.

Schnell, Martin W., und Christine Dunger, Hrsg. 2019. Digitalisierung der Lebenswelt: Studien zur Krisis nach Husserl. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. https://doi.org/10.5771/9783748906490.