Abstract
Obwohl die E-Mail mittlerweile zu den alltäglichen Kommunikationsformen an Hochschulen zählt, kommt es immer wieder zu Irritationen – ausgelöst durch E- Mails, die von Seiten der Lehrenden zum Teil als «schlampig» oder «frech» empfunden werden. Dieses Phänomen wird im vorliegenden Beitrag zum Anlass genommen, der Frage nachzugehen, warum sich in der E-Mail-Kommunikation bislang wenig allgemeingültige Regeln herausgebildet haben. Dabei wird erstens die These vertreten, dass die (oftmals gescholtenen) studentischen E-Mails keineswegs regelfrei verfasst werden; sie werden aber von den Empfänger/innen als «abweichend» erlebt, da die E-Mail als Gattung oder Textsorte – insbesondere zu Beginn der Kommunikation – auf sehr unterschiedlichen Referenztextsorten fusst: Die Verfasser/innen orientieren sich an zahlreichen anderen Formaten, wie etwa dem Brief, der Kurznotiz, dem Alltagsgespräch, der Verfahrensanweisung oder dem Kommentar. Erst im Verlauf einer weiteren E-Mail- Kommunikation können dann gemeinsame Regeln ausgehandelt werden. Da jedoch – so die zweite These im Anschluss – der E-Mail-Verkehr meist interpersonal geschlossen bleibt, kommt es nicht zu einer kollektiven Normbildung, die durch grössere Öffentlichkeiten dauerhaft geteilt würde. Solange also die Referenznormen zu Beginn eines Austausches derart unterschiedlich sind, und sie für die jeweilige digitale Interaktion im Verlauf immer neu interpersonal justiert werden müssen, solange wird die E-Mail als ein individualisierender, vermeintlich regelloser «Selbstläufer» wahrgenommen. Die beiden Thesen basieren nicht auf eigenen empirischen Erhebungen, sie stellen vielmehr Überlegungen dar, die das alltäglich auftretende Phänomen der «Normverletzung» bei E-Mail-Texten – methodisch explorativ anhand von Beispieltexten – aufgreifen, um es mit Forschungsbefunden zur Spezifik der E-Mail bzw. zur digitalen Kommunikation zu kontrastieren bzw. zu erschliessen.