Aktuelle Binnenschau der journalistischen Medienwelt

Schlagworte

Rezension
Medien
Medienkritik
Journalismus

Zitationsvorschlag

Tully, Claus. 2022. „Aktuelle Binnenschau Der Journalistischen Medienwelt“. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Nr. Reviews - Rezensionen (Dezember). https://doi.org/10.21240/mpaed/99/2022.12.24.X.

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Abstract

Rezension zu

Precht, Richard David und Harald Welzer. 2022. Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinungen gemacht wird, auch wenn sie keine ist. Frankfurt a.M.: S. Fischer. 22,00 €

https://doi.org/10.21240/mpaed/99/2022.12.24.X

Zum Einstieg ein kurzer Blick in das Buch selbst:

Es beginnt mit einer kleinen Geschichte der Öffentlichkeit (Precht, David, und Welzer 2022, 39 – 66) und behandelt dann eine von den Autoren ausgemachte Repräsentationslücke (ebd., 67 – 93). Weiter geht es um die Rolle des Journalismus, in der nach ihrem Urteil viel über Politiker und weniger von Politik die Rede ist (ebd., 114 – 135). Moniert wird der Hang zur Kopie (ebd., 157ff) und die Auswirkung der Direktmedien auf die Qualität der Leitmedien (ebd., 199 – 217). Die Rede ist von einem Qualitätsverlust. Die letzten beiden Kapitel wenden sich der Vernachlässigung des Kontextes (ebd., 218 ff) zu und in ihren abschliessenden Empfehlungen wird formuliert, wie ein neuer Kurs der Leitmedien aussehen könne (ebd., 149 ff).Die Autoren Precht und Welzer erinnern in ihrem Buch eingangs an ihren offenen Brief an den Bundeskanzler (ebd., 19-38), den hatten sie gemeinsam mit anderen Prominenten zum Krieg gegen die Ukraine und zu den Waffenlieferungen durch Deutschland geschrieben. Weil in dem Brief die Waffenlieferung problematisiert wurde, wurden die Briefverfasser nach ihrer eigenen Einschätzung in Talkshows und Tagespresse für ihre abweichende Beurteilung durchgängig mit reichlich Häme bedacht und entsprechend zurechtgewiesen.

Vielleicht hat diese öffentliche Zurechtweisung die erforderliche Kraft für das Buch «Die Vierte Gewalt» freigesetzt. Dem Titel gemäss wird die hohe Wertigkeit der «vierten Gewalt» eingelotet und justiert, vor allem gibt das Buch einen tiefen Einblick in die Funktionsweise des modernen Journalismus. Geleistet wird eine Binnenschau zum Mediengeschehen. Kenner der Soziologie sehen sich an Niklas Luhmanns Begriff der Selbstreferenzialität erinnert. In seiner Systemtheorie führt er aus, wie sich Systeme auf sich selbst beziehen und wie sie in der Spiegelung ihres Selbst eine merkliche Eigendynamik entwickeln können. Dies ist der Gegenstand des Buches.

Was die vierte Gewalt des Journalismus betrifft, so führen Precht und Welzer aus, wie es einst der Pressemagnat Hearst in den USA schaffte, in seinen «50 Zeitungen die ungleichen Meinungen der Menschen, soweit es ging, aneinander» anzugleichen (ebd., 49). Auch in Deutschland gelingt dem Pressekonzern von Hugenberg zwischen 1916 und 1943 der Aufbau eines vergleichbaren Presseimperiums, das er umfassend zur Einflussnahme zugunsten der Hitlerpartei einsetzt. Seitdem erscheint es so, als wäre die Presse fähig, selbst Themen für den politischen Alltag zu setzen. In Medienseminaren wird gelegentlich ein etwas idealisiertes Muster vorstellig gemacht, wobei die Vierte von der Presse ausgehende Gewalt dem System der demokratischen Gewaltenteilung (Judikative, Legislative und Exekutive) erst zum Durchbruch verhilft.

Aber, so wird im Buch gefragt, kontrolliert die Presse uneigennützig den Gang der Politik? Dazu wird im Buch der Publizistikwissenschaftler Wagner wie folgt zitiert: «die angeblich marode gegenseitige Kontrolle der öffentlichen Gewalten im Parteienstaat als eigenständige Kontrolle der öffentlichen Gewalt-Kontrolle zu heilen, entziehen sich Medien und Journalisten selbst jeglicher Kontrolle» (ebd., 51). Diese gedachte Kontrollfunktion des Journalismus einerseits und die Habermas‘sche Idee eines freien Diskurses stecken für Precht und Welzer den Rahmen für die Frage nach der Rolle der «Mediengesellschaft heute» ab. Neu und erweitert spielen jedoch heute die sogenannten Direktmedien (also Twitter, Mastodon, Facebook, Instagram und Co) eine herausgehobene Rolle. Damit wird die vierte Gewalt mithin durch eine fünfte Gewalt (ebd., 60 ff) erweitert. In der Regel gibt die «vierte Gewalt» der Fünften oft erst eine Stimme, berichtet also darüber, was zunächst nur einem engen Kreis zugänglich ist. Interessanter ist das Agenda-setting, das heisst die klassischen Printmedien, TV und Co greifen Inhalte auf, adaptieren, geben den Themen ihren eigen Stil, den die Polittalks perfektionieren. Die Medien nähmen, so die Autoren, eine ‚Helikopterperspektive‘ ein, wobei es ihnen weniger um das konkrete Geschehen, denn darum geht, wie die politischen Eliten mit der jeweiligen Thematik umgehen (ebd., 79). Elitendiskurse (ebd., 101) klammern faktische Betroffenheit aus. Die Realität des politischen Alltagsgeschäfts wird zurückgefahren. Die Rede ist von «unmarked spaces», Räume, die «wir nicht sehen, wenn wir meinen, etwas genau zu sehen» (ebd., 94), Realität erscheint als beobachtet.

Offene demokratische Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie viel «Diversität, Pluralität und Widerspruch» zulassen, weshalb ihre «selektive Blindheit weitaus geringer ist als jene in autoritären Staaten». Die Leitmedien, so die Autoren, «repräsentieren ausgewählte Gruppen» (ebd., 101). Der Rezensent, ein Soziologe, würde hier von «herrschenden Sichtweisen» sprechen, denn dies ist der Inhalt einer Berufung auf Leitlinien und allgemeinen Orientierungen. Sichtbar wird dieses Muster, wenn nicht mehr wie vordem wissenschaftliche Beurteilungen, sondern Informationen aus Denkfabriken eingeführt werden und per Netzwerken vermittelte Sichtweisen eine herausgehobene Rolle spielen (ebd., 102 ff.). Die Rede ist von ‚Indexierung‘. Ihr Kennzeichen: es fehlt an der Kritik oder Infragestellung von Kernbegriffen. Der Begriff der Zeitenwende ist ein solcher Kernbegriff. Begriffe, einmal als Narrativ gesetzt, führen nicht mehr zur Frage nach der Ausgangslage, z.B. der Frage ob Waffenlieferungen der richtige Weg wäre, sondern lediglich dazu, welchen Umfang sie haben sollen (ebd., 108 f.).

Die Verallgemeinerung einer Thematik wird (anders als in verschwörungstheoretischen Erzählungen) nicht von oben nach unten verordnet, sondern die Konkurrenz der Medien untereinander wirft die Maschine des Wettbewerbs darum an, immer neue Aspekte des gleichen Ausgangspunkts an den Tag zu befördern. Die so angelegte Einwirkung auf die öffentliche Meinung ist inzwischen Praxis geworden. Zu erinnern wäre laut Precht und Welzer an das US-Narrativ der Dominotheorie. Dieses Narrativ besagt, Saigon verteidige den freien Westen gegen kommunistische Gewalt (ebd., 111ff.). Das Narrativ wurde schliesslich brüchig und spätestens mit den Verhandlungen zur Beendigung des Vietnamkrieges ausgemustert.

Entlang der Verflechtung von Politik und Leitmedien wird das Konzept der ‚Repräsentationslücke‘ ausgearbeitet (ebd., 67 ff.). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass in erster Linie Politiker:innen kommentiert würden «und nicht die realen Geschehnisse im Land» (ebd., 113 und 114f.). Exemplarisch wird dies am Medieneinsatz zur Absetzung von Christian Wulff nachvollziehbar (ebd., 147ff.) dargestellt. Streng selbstreferenziell laden sich Medien Repräsentanten ein, die darum wetteifern, tiefschürfig zu argumentieren, der Erfolg ist dann, wie nicht anders zu erwarten, die Vertiefung einer Sichtweise. Dieses Vorgehen brachte Christian Wulff zu Fall, die Vorwürfe konnten zwar entkräftet werden, nicht aber die Wirkung der Mediendebatte.

Was ist nun die Message des Buches, was sollen die Medien eigentlich tun?

Im Buch wird angeraten, Medien sollten sich auf das, was ist, fokussieren, reklamiert wird hingegen Personalisierung, Erregungsschlagseite, stock-Market-Publizistik und Cursor-Journalismus (ebd. 157). Sachverhalte werden individualisiert, wodurch Leitmedien «Verzerrungen und Verunglimpfungen eine Bühne» gäben (ebd., 225).

Wenn Habermas vom Strukturwandel der Öffentlichkeit redet, denkt er an den Umbruch der Gesellschaft und ihre Modernisierung. In den Medien wird diese Modernisierung als Dekontextualisierung erlebbar. Übergeordnete gesellschaftliche Gemeinsamkeit verschwindet, eine diskursive Prüfung von Inhalten, die allgemein anerkannten Massstäben, im Sinne von Habermas, folgen würde (ebd., 263), gibt es nicht mehr und es fehlt eine klare «Trennung von öffentlichem Raum bzw. öffentlicher Sprecherrolle und Privatsphäre» (ebd.). Was sind die Grundfunktionen journalistischer Tätigkeit?

Unstrittig sollen Informationen aus Politik, Wirtschaft und Kultur aufbereitet und einem ausgedehnten Publikum zur Verfügung gestellt werden. So sollen aktuell u.a. Verbraucher informiert sein, wie Umweltprobleme zu bewältigen sind, sie sollen zur Mitwirkung motiviert werden und lernen, dass diese Probleme nun nicht einfach vom Markt gelöst werden, sondern es der Mitwirkung der Vielen bedürfe. Journalist:innen fällt auch zu, die Komplexität von Sachverhalten, etwa von wissenschaftlichen Studien zu reduzieren, um so Transparenz und Reflexivität zu befördern. Wo stehen wir? Was ist der Stellenwert des Buches? Es ist eine lesenswerte Auseinandersetzung mit der Medienwelt heute. Aber von Habermas wissen wir auch, die Handlungsmaximen für unsere Tage können wir nicht mehr aus der Vergangenheit ableiten, weil die ausdifferenzierte Moderne ihre Massstäbe nicht mehr aus den Vorbildern vorangegangener Epochen entlehnen kann, weil die Gesellschaft heute ihre Normalität neu zu schöpfen muss (Habermas 2007, 16). Gerade dies macht die Auseinandersetzung mit unseren Medien wichtig. Denn wie das Buch zeigt, hat die Modernisierung die Gesellschaft und die Medien selbst nachhaltig verändert. Die Medien sollen sich, so ist das Anliegen des Buches zusammenzufassen, entsprechend neu justieren.

Was aber wollen wir von den Medien noch, fragen sich die beiden Autoren. Journalist:innen sollen mehr über Sachverhalte sprechen und weniger über die Urteile von eingeladenen Diskutierenden, sie sollen weniger mit Wahrscheinlichkeiten und mehr mit Gründen auf Basis von Sachanalysen operieren.Nachzutragen bleibt noch aus der Sicht des Rezensenten, Journalist:innen sollen den Wunsch, aktueller als die restlichen und faktisch konkurrierenden Medien zu sein, zurückstellen. Sie sollen etwas weniger voraus- und stattdessen mehr das Nachdenken betonen. KI kann heute schon Muster erkennen und so absehbare Verläufe berechnen und als Vorausdenken deklarieren. Nachdenken kann die künstliche Intelligenz nicht.

Literatur

Habermas, Jürgen. 2007. Der philosophische Diskurs der Moderne. 12 Vorlesungen. (10. Auflage). Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Precht, Richard David, und Harald Welzer. 2022. Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinungen gemacht wird, auch wenn sie keine ist. Frankfurt a.M.: S. Fischer