Einleitung
Künstliche Intelligenz gilt als Schlüsseltechnologie, von daher verwundert es nicht, dass derzeit diverse sozialwissenschaftliche Titel zur KI erscheinen. Dem Thema kommt hohe Aufmerksamkeit zu. Aktuell, zu Beginn von 2023, gehen Berichte zu der Software ChatGPT durch die Tagespresse, die Software soll den Gebrauch des Internets revolutionieren. Laut Wikipedia handelt es sich bei ChatGPT (Generative Pre-trained Transformer) um einen Prototyp eines Chatbots,
«also eines textbasierten Dialogsystems als Benutzerschnittstelle, der auf maschinellem Lernen beruht. Den Chatbot entwickelte das US-amerikanische Unternehmen OpenAI, das ihn im November 2022 veröffentlichte».
(Wikipedia)
Und was kann solch ein lernendes Dialogsystem? Es ist in der Lage, auf Anweisung hin Texte nach Vorgaben zu erstellen. Die generierten Texte sind nicht bloss Nonsens, vielmehr wird ernsthaft diskutiert, ob künftig Prüfungsarbeiten mit solcher KI erzeugt als Leistung einer Maschine erkennbar wären. Denn bislang eingesetzte Plagiatssoftware stösst hier an ihre Grenzen. Im Dialog lassen sich jedoch nicht nur Texte sondern auch Bilder nach vorgegebenen Stilen, Layouts und vieles mehr, fabrizieren. Schon heute hat die Digitalisierung die Textproduktion und Büroarbeit nachhaltig verändert. Textergänzungen in WhatsApp beispielsweise ist nichts anderes als angewandte KI, sie hat also bereits unseren Alltag erreicht. Und noch etwas: Wer heute ein Callcenter anruft, wird von Maschinen nach dem Anliegen gefragt, muss sich identifizieren, sein Anliegen rubrizieren und erhält im Maschinendialog Lösungsvorschläge. Die Digitalisierung hat bereits seit längerem unseren Alltag verändert. Was steckt da dahinter? Es geht darum, komplexe Prozesse die auf einer Bündelung von Informationen gründen, und die deshalb als komplex bezeichnet werden, zu beschleunigen.
In Stanley Kubricks Film Odyssee 2001 (1968) übernimmt der Computer HAL 9000 gegen den Willen der Besatzung die Kontrolle des Raumschiffs. Ein Roboter steuert die Technik des Raumschiffs, bis dato war die Kontrolle der Maschine das Privileg der Menschen. In den in den 1960er-Jahren produzierte Serien für das Fernsehen waren Raumschiffe zu sehen, in denen die Technik auf Anweisung des Commanders arbeitete. Technik war dienlich. HAL 9000 jedoch übernimmt die Kontrolle und durchkreuzt im Konfliktfall die Strategie der Astronauten, ihn abzuschalten. Er beherrscht die Situation: der Rechner des Raumschiffs kann von den Lippen lesen und obgleich sich die Astronauten zurückzogen, um nicht gehört zu werden, erkennt HAL ihre Absicht. Der Film zeichnet das Bild von der allmächtigen Maschine. HAL steht übrigens für IBM (es werden die jeweils davor liegenden Buchstaben benutzt), das damals unumstritten fortgeschrittenstes Unternehmen für Computertechnik. Das war vor gut 50 Jahren. Inzwischen ist einiges passiert, Dialogsysteme sind zum natürlichsprachlichem Dialog fähig. Bots begrüssen Klienten, die Verschiebung der Grenzen von Mensch und Maschine wird kenntlich. Textproduktionsalgorithmen fungieren als Scharnier im System. Es geht um die Einsparung von humaner Arbeitskraft, aber nicht nur, bei der KI es geht auch darum, Prozesse effizienter zu gestalten und humane Störquellen zu minimieren. Das autonome Auto lenkt sich selbst. Analog sollen viele möglichen Prozesse gleichermassen effektiviert werden. Die KI (Künstliche Intelligenz) oder AI (Artifical Intelligence) fungieren als Sammelbegriff für durch Maschinen erbrachte, menschenähnliche Intelligenzleistungen. Maschinen sollen möglichst auf umfassende Wissensbestände Zugriff nehmen, sie sollen sehr grosse Datenmengen verarbeiten, wozu Menschen ausserstande sind. Abläufe, egal ob Auto fahren, Nachrichtenproduktion, Kundendialog, die Steuerung von Fabriken, sollen so störungsfrei und zügig gestaltet werden. Absehbar lässt Technik somit ihren Status als Werkzeug hinter sich. Dafür, dass Menschen sich der Maschine anpassen müssen, spricht einiges. Menschliche Kommunikation besteht aus Inhalt und Beziehung, Maschinen betonen den Inhaltsaspekt von Information. Basale Veränderungen sind erwartbar und sie sind Thema der vorzustellenden Bücher, ihr gemeinsamer Ausgangspunkt: die Einschätzung dieser Entwicklung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Behandelt werden die kulturelle und politische Rahmung.
Im Buch «Das Versprechen der künstlichen Intelligenz. Gesellschaftliche Dynamik einer Schlüsseltechnologie» von Hartmut Hirsch-Kreinsen (2023) werden die Interessen und Akteure, die die Entwicklung dieser Technologie bestimmt haben, analysiert. Es geht um die Versprechen einer «Promising Technology» und thematisiert werden die Strukturen der Innovationssysteme und der Innovationspolitik.
In «Kapitalistische Subjektivation. Das Subjekt des kybernetischen Kapitalismus zwischen Digitalisierung, Prekarisierung und Autoritarismus» von Peter Schulz (2022) geht es um eine soziologische Zeitdiagnose, um die Veränderung von Gesellschaft und Subjekt, die im kybernetischen Kapitalismus angelegt zu sein scheint. Im Fokus stehen die kulturelle Formung durch Digitalisierung und die damit verbundenen Auswirkungen wie Prekarisierung, Desintegration und Integration der Gegenwartsgesellschaft.
Christian Fuchs analysiert in seinem Buch «Der digitale Kapitalismus. Arbeit, Entfremdung und Ideologie im Informationszeitalter» (2023) den digitalen Kapitalismus als Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Kultur und damit die lebensalltäglichen Folgen der Digitalisierung im Informationszeitalter. Er akzentuiert – wie Schulz – die kulturelle Formung und liefert vorrangig eine Kritik an der Mediatisierung der Gesellschaft. Die drei ausgewählten Bücher werden im Folgenden genauer beschrieben und ihre Kernaussagen eingeordnet.
Das Versprechen der künstlichen Intelligenz
Hirsch-Kreinsen legt eine ambitionierte Überblicksstudie vor. Einleitend beschreibt er KI als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Angesichts der nun schon 70-jährigen Entwicklungsgeschichte formuliert er aber auch Zweifel an einer raschen Umsetzung dieser Technik, indem er auf verschiedene unrealistische Erwartungen verweist. Die Entwicklung zur KI ist für ihn Resultat sozialer, ökonomischer und politische Entscheidungen, es geht um ein Technologieversprechen (Hirsch-Kreinsen 2023, 10), um öffentlich vorgetragene Zukunftserwartungen, die sich in hohen Investitionen und Fördermassnahmen manifestieren. Dem Buch geht eine Expertise, also ein umfassendes wissenschaftliches Gutachten voraus, das im Rahmen eines Forschungsprojektes mit dem Projekttitel «KI–Mensch –Gesellschaft» erarbeitet wurde. Finanziert wurde dieses Vorhaben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Das Buch umfasst vier Teile: Teil eins klärt Konzept und Begrifflichkeit (ebd., 25 – 50) ab. Teil zwei ist überschrieben mit Dynamik der KI (ebd., 51 – 140), Teil drei widmet sich den «Perspektiven» und den Grenzen der Dynamik. Es geht hier um die europäische und deutsche Variante der KI (ebd., 161 ff). Der vierte Teil, überschrieben mit «KI ein besonderer Innovationsmodus», untersucht die Förderung von KI und deren institutionellen und nationalen Rahmen. Im fünften Teil wird die «Logik des Technologieversprechens» als verkürztes Innovationsverständnis kritisiert. Das Buch schliesst mit einem Resümee zum Mythos der intelligenten Maschine (ebd., 267ff). Die Vision der intelligenten Maschine ziehe sich «wie ein roter Faden bis heute als übergeordnetes Entwicklungsziel durch die verschiedenen Entwicklungsphasen der KI» (ebd., 269).
Die Entwicklungslinien werden von Hirsch-Kreinsen in der Einführung entlang der Koexistenz verschiedener Konzepte vorgestellt und schaubildlich (ebd., 47) gelungen zusammengefasst. Die Geburtsstunde der KI reicht demnach bis in die 1950er-Jahre zurück (ebd., 51 ff). Hirsch-Kreinsen erinnert an diverse Anläufe, Dialogsysteme zu entwickeln. Ein funktionierendes Dialogprogramm 'Eliza' kam von Joseph Weizenbaum (1966). Weizenbaum ein (lesenswerter) Kritiker der Computerisierung wollte damit die Grenzen für den Dialog aufzeigen. Eliza ist Beispiel für punktuelle Erfolge und dafür, neue Versprechen über die Leistungsfähigkeit von KI in die Öffentlichkeit zu tragen. Für die Gewinnung von Fördermitteln war dies unerlässlich. Ab den 2000er-Jahren wird «eine beschleunigte Dynamik der KI erkennbar, die sich seitdem kontinuierlich verstärkt» (Hirsch-Kreinsen 2023, 93). Die Rede ist von Anwendungspotentialen, die auf vier wechselseitig sich verstärkenden Faktoren gründen. Ausgeführt werden:
- die Entwicklung hochkomplexer KI-Methoden, die das maschinelle Lernen befördern,
- die qua Internet nun global verfügbaren Daten und deren Analyse im Sinne von Big Data,
- die enorm gesteigerte und verbilligte Rechnerleistung,
- ein genereller Prozess der Digitalisierung, «das heißt die Transformation von immer mehr sozialen Plätzen in eine IT-freundliche Umgebung und die Durchdringung der Gesellschaft mit digitalen Systemen» (ebd., 93f).
Die Anwendungsfelder heute sind smart home und Industrie 4.0, umwelt- und klimaschonende Mobilität und Logistik, Assistenz bei der Pflege in einer alternden Gesellschaft sowie die Nutzung autonomer Systeme in «menschenfeindlichen Umgebungen» (ebd., 98). In einem Zwischenresümee findet sich ein Tableau zum Verlaufsmuster der KI -Dynamik (ebd., 133). Das Setting der KI-Community, mit seinen Akteuren Innovationspolitik, Wissenschaft und Unternehmen, den Methoden, Konzepten, Prototypen und der Produktentwicklung ist dort ebenfalls zusammengefasst (ebd., 137). Der hohe finanzielle Förderbedarf wird mit der Eigenschaft der KI, Schlüsseltechnologie zu sein, begründet. Zu den Schlüsseltechnologien gehören demnach Mikroelektronik, Telekommunikation und Biotechnologie und seit den 1980ern die «Informationstechnologien», insbesondere die der KI. Allerdings bleibt dieser Begriff vage und sei weder «wissenschaftlich noch innovationspolitisch sonderlich präzis definiert» (ebd., 249). Im Kern eröffnen Schlüsseltechnologien neue und ökonomisch höchst lukrative Felder, für die überdurchschnittliche Gewinnraten erwartbar sind. Schon die alte «Drei Sektoren-Hypothese» beschreibt nachvollziehbar die Wanderung von Investments hin zu Sphären, für die die grössten Profite erwartbar sind. Dies war einst die Rohstoffgewinnung und Landwirtschaft, dann die Industrie, schliesslich die Dienstleistung, die Computerisierung und Kommunikationstechnik.
Wo also stehen wir?
«Das Technologieversprechen KI bezieht letztlich seine hohe Überzeugungskraft aus dem Mythos der intelligenten Maschine, die der menschlichen Intelligenz ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist.»
Hirsch-Kreinsen 2023, 267
Für sein Resümee zitiert Hirsch-Kreinsen ein Experteninterview: Die KI besitze «die technischen Möglichkeiten …, uns in einzelnen Bereichen in den Schatten zu stellen». Und sie wäre dazu geeignet, auch Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Der hier anonymisiert zitierte Experte sieht seine Diagnose in Übereinstimmung mit den meisten Wissenschaftlern, «die in diesem Bereich arbeiten» (ebd., 270).
Das «Versprechen der künstlichen Intelligenz» hat fortgesetzt den möglichen Umsetzungsbezug im Blick, es geht darum, wie die KI praktisch gemacht werden wird, insofern haben Leser:innen eine Zusammenschau zur Entwicklungsgeschichte und zur inneren Logik, zu den Hürden der Technologieentwicklung vor sich. Es geht um die Ausleuchtung der Motive zur Förderung dieser Technologie und klärt so nebenbei die Relevanz der kontinuierlichen Lobbyarbeit auf. Angelpunkte sind die förderliche Innovationspolitik und Innovationsförderung, eingebettet in eine internationale Konkurrenz, gerade sie immer ein gutes Argument für nationale Wirtschaftsförderung. Diese Prozesse zu beleuchten und die Strukturen die KI-Entwicklung herauszuarbeiten, ist das Verdienst des Buches. Seine Lektüre erlaubt einen Einblick in Prozesse der Technologieversprechen für eine künftige Gesellschaft. Wer immer wissen will, was die relevanten Akteure mit der KI wollen, dem kann die Lektüre nur empfohlen werden.
Kapitalistische Subjektivation
Das Buch von Peter Schulz nimmt eine deutlich distanziertere Perspektive zum Gegenstand der KI ein. Einleitend wird in die Thematik eingeführt und das zweite Kapitel analysiert den Technikgebrauch im Kapitalismus heute (Schulz 2022, 25 – 64). Das Kapitel drei thematisiert die Verdinglichung durch Technik (ebd., 65ff.) und im Kapitel vier geht es um die Herausbildung des Sozialcharakters (ebd., 107ff.). Aufgezeigt werden Prozesse sozialer Gestaltung und die der Aneignung von Welt unter den Verhältnissen des kybernetischen Kapitalismus. Das fünfte und abschliessende Kapitel wendet sich der Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus (ebd., 159ff.) zu. Das Buch liefert weniger eine Skizze der KI, wohl aber eine grundlegenden Analyse der Artifizierung der Gesellschaft, die mit der Anwendung künstlicher Intelligenz erwartbar ist. «Zwischen Kapitalismus und Subjektivation besteht also ein enger Zusammenhang, und daher ist es nötig, den zeitgenössischen Kapitalismus näher zu bestimmen» (ebd., 25). Die im Buch beschriebenen Digitalisierungsprozesse untersucht der Autor mithilfe der Diagnosen soziologischer Ansätze, etwa mit denen von Mau, Staab und Reckwitz, Sennet und Rosa (ebd., 25). Tableauartig werden die Ansätze der genannten Soziologen vorgestellt und um die eigene Forschungsperspektive (ebd., 29) ergänzt.
Digitalisierung gestaltet die organisationale und globale Arbeitsteilung (ebd., 34 – 42). Es geht um die Produktion von Gütern und den zugehörigen Konsum. Für Schulz müssen Produktion und Konsum zusammen erfasst werden, da beide nur gemeinsam wertbildend wären. Mit Bezug auf Theodor W. Adorno beschreibt Schulz einen sich differenzierenden Kapitalismus. Die Digitalisierungsprozesse ab den 2000er-Jahren markieren für ihn den Übergang von einer homogenen 'Kulturindustrie I' hin zu einer «erweiterten und pluralisierten Kulturindustrie II». Anders als bei Theodor W. Adorno wird nunmehr auch die Warenproduktion der Kulturindustrie selbst technisiert. Beispiele sind die Produktion von (Chart-) Popmusik und die «Produktion von Serien und Filmen für TV, internetvermitteltem Streaming» (ebd., 51), sie ist hoch arbeitsteilig und die Produktion orientiert sich bereits vorab an kalkulierbaren Konsumentscheidungen. Dies kennzeichnet diese neue Phase der Kulturindustrie. Die Kulturindustrie wird pluralisiert und kybernetisiert, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Es geht um die «Landnahme des Sozialen» (ebd., 55f.). Den Rahmen stiften Daten, Rabattkartensysteme erlauben die Steuerung kybernetischer Prozesse, sie koppeln effizient Markt und Produktion. Und was sind die Nebeneffekte? Grössere Flexibilität, flexible Arbeitszeiten, branchenübergreifende Prekarisierungstendenzen, wachsende Prosumtion. Der aktuelle massive Personalabbau bei den Techfirmen in den USA könnte als Beleg für seine Diagnose zur Kulturindustrie unserer Tage fungieren.
Informatisierung stösst eine gesellschaftlich folgenreiche Entwicklung an, dies wird an der Durchformung der Gesellschaft und der Anpassung der Subjekte an die vorgegebenen Verhältnisse sichtbar, dabei geht es nicht nur um das «bloße Aushalten der Widersprüchlichkeit», sondern um ihre «praktische Bearbeitung … als Übergang vom widersprüchlichen Subjekt zum Subjekt des Widerspruchs» (ebd., 176). Die Kulturindustrie III zerfällt nicht mehr in «funktionslose autonome Kunst» einerseits und «Kulturindustrie» (ebd., 180). Beschrieben werden zusammenfassend drei Formen linker Politik als Reaktion auf diesen Zustand. Zunächst geht es um «die Kämpfe der Exkludierten, die auf eine Integration in die gesellschaftlichen Verhältnisse» (ebd., 182) abstellen. Die zweite Form fokussiert die Integration qua tayloristischer oder körperlich-handwerklicher Arbeitstätigkeiten. Die dritte Form steht für Identitätspolitik «im engeren Sinne». Ebendiese stellt «partikulare, individualisierende Identitäten in ihr Zentrum» (ebd., 183). Die Aufhebung des Charakters, die als «Gegen-Subjektivierung» bezeichnet wird, wird nicht als Aufgabe neuer Theoriebildung umrissen, vielmehr fordert der Autor die Aufhebung des «subjektivierten Widerspruchs» (ebd., 185). Es geht nicht nur um die Ausbildung einer digitalen Medienkompetenz, sondern darum, dass sich Subjekte gegenüber digitalen Umwelten «produktiv-aneignend verhalten» können (ebd., 186).
Beim Buch von Peter Scholz handelt es sich um eine ambitionierte und kluge Zusammenschau von Digitalisierung und gesellschaftlicher Formung der Subjekte und ihrer Lebenswelt. Die schleichende Gestaltung und Veränderung unsere Gesellschaft ist Thema. Sein Bemühen um eine gründliche Rückerinnerung an soziologische und gesellschaftskritische Konzepte zur Beschreibung von Gesellschaft und deren Veränderung ist keineswegs selbstverständlich. Schulz sieht mit der KI eine künftige Gesellschaft heraufziehen, die sich grundlegend von der heutigen unterscheidet. Er erwartet einen gesellschaftlichen Formenumbruch, der dem von der vorindustriellen hin zur industriellen Gesellschaft entspricht. Die Lektüre ist sozialwissenschaftlich interessierten Leser:innen sehr zu empfehlen. Vor allem die beschriebene kulturelle Aneignung per Digitalisierung ist eindrücklich dargestellt.
Der digitale Kapitalismus
Der Autor Christian Fuchs will mit seinem Buch eine Einführung zur Umgestaltung von Arbeit und der Produktionsweise vorlegen, Arbeit und Produktion werden also mit der Medienwelt verknüpft. Es ist die von ihm herausgearbeitete Verbindung von modernen Technologien in der Arbeitswelt mit den Forschungen hin zu Medien. So gelingt es ihm u.a. aufzuzeigen, wie sich die Datenproduktion durch User medientheoretisch in Produktivität übersetzen lässt. Den Hintergrund liefert die ökonomische Nutzung digitalisierter Welten. Nicht nur die Produktion von Objekten, sondern auch der Medienkonsum selbst wird bei Fuchs als produktiv umrissen. Wertschöpfende Aktivitäten sind nach diesem Verständnis nicht mehr an Arbeitsplätze gebunden.
Das Buch hat vier Hauptteile. Im Teil 1, der Einleitung, führt der Autor aus, was er unter digitalem Kapitalismus verstehen will und wie er das Buch aufbaut (Fuchs 2023, 9 – 44). Der Teil 2 ist sehr umfangreich und – im Kontrast dazu – knapp mit dem Begriff «Theorie» überschrieben (ebd., 45 – 212). Im Teil 3 werden etwa der digitale Positivismus (ebd., 213 – 230) und der Gegenstand soziale Medien, Big Data sowie die Kritik des Marketing (ebd., 231 – 251) abgehandelt, weiter geht es um Kapitalismus, Patriarchat, um Rassismus im Zeitalter des digitalen Kapitalismus und der digitalen Arbeit (ebd., 252 – 275). Der Teil 3 gilt der Analyse von digitaler Arbeit und Imperialismus (ebd., 276 – 291). Das abschliessende 4. Kapitel ist den Schlussfolgerungen des Autors zum digitalen Kapitalismus (ebd., 294ff.) und den wirtschaftlichen und politischen Aspekten (ebd., 296 – 298) vorbehalten. Abschliessend werden Alternativen aufgezeigt.
Im Abschnitt «Theorie» holt Christian Fuchs breit aus. Rezipiert werden zunächst die Überlegungen von Friedrich Engels. Mit ihm beleuchtet er die Lage der Arbeiterklasse heute, im digitalen Zeitalter. Dann rezipiert er Georg Lukács und zwar in doppelter Weise: (a) im Zeitalter des digitalen Kapitalismus und (b) Lukács als Medien und Kommunikationswissenschaftler. Mit Lukács will Fuchs eine Ontologie des gesellschaftlichen Seins (ebd., 104 – 137) vorstellen, es geht um Werktätigkeit und Kommunikation sowie um Arbeit und Ideologie. Die Abhandlung zur digitalen Kulturindustrie erfolgt mit Bezug auf Theodor W. Adorno (ebd., 138ff.). Es folgt mit Henri Lefebvre eine Kritik des Alltagslebens (ebd., 162 – 195). Hier wird die Frage nach dem Verhältnis von Ökonomie und Kultur und der Rolle von Kommunikation im Alltagsleben vertieft. Die Trennung von Wirtschaft und Kultur wird als unhaltbar vorgestellt (ebd., 177ff.), verknüpft werden soziale Strukturen, soziale Systeme und soziale Institutionen der modernen Lebenswelt, in der sich Wirtschaft, Politik und Kultur als verwoben erweisen. Gemeinsam befördern sie die Ausbildung kommunikativer Praktiken, Erlebtes wird über die genutzten Kommunikationsmittel geformt (ebd., Abb. 6.1, 170). Der Autor argumentiert anschaulich, bricht komplexe Sachverhalte herunter. Den Kommunikationsmitteln (primäre bis quintäre) stellt er jeweils spezifische Formen ‚technischer Vermittlung‘ gegenüber und fügt beschreibende Beispiele an (ebd., Tab. 6.3, 172).
Am Ende des Theoriekapitel geht Fuchs auf Dallas Smythe ein, auf den die Begriffe von der Publikumsware und der Publikumsarbeit aus den späten 1970er-Jahren zurückgehen. Fuchs nimmt den Zusammenhang von Produktion und Konsumption in den Blick, denn nur der Konsum macht den vorangegangen Produktionsprozess zu einem produktiven. Vereinfacht gesagt: unverkaufte Waren haben keinen Wert. Smythe beschreibt Werbung als «Kapitalakkumulationsmodell». Publikum und Leserschaft sind produktive Akteure qua ihrer Mediennutzung (ebd., 196), aus seiner Sicht fällt den Medienkonsumenten die Aufgabe zu, die Nachfrage nach den beworbenen Waren abzusichern. Freilich hat die Arbeit heutiger «Prosument:innen in den sozialen Medien» wenig gemein mit dem von Smythe untersuchtem kommerzialisierten Rundfunk. Entlang diskriminierender Dimensionen arbeitet Fuchs die neue Qualität sozialer Medien heraus. Neu sind «Kreativität und soziale Beziehungen», «Überwachung», «gezielte und personalisierte Werbung» und «algorithmische Auktionen» (ebd., 201). Nun wird die von Fuchs verfolgte breite Diskussion ökonomischer Theorien nachvollziehbar, sie dient ihm als Erklärungshilfe wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Social Media-Plattformen und Werbekunden (ebd., 202 – 205). Das Verhältnis von Produktion und Konsum hat sich basal verändert und für den Konsum gibt es massenhaft viele Daten und zwar in Mengen, die von Menschen nicht mehr verarbeitbar sind. Facebook hat täglich rd. 1,9 Mrd. User, Google zwischen 3,5 und 4 Mrd. Suchanfragen (ebd., 231). Menschen verbringen immer mehr Zeit mit Medien und hinterlassen immer mehr Daten über sich. Ganztägig werden Menschen mit Werbung «umspült» (Tully 2018, 8), wobei jede beliebige Suchanfrage viele neue Datensätze generiert. Zugleich sind die Kommunikationsmedien verallgemeinert, portabel, immer im Zugriff und sie prägen die Modi der Kommunikation, der Informationsverarbeitung und des Konsums. Was geldförmig produktiv und was Freizeitaktivität ist, lässt sich schwer scheiden. Agiert wird in Parallelwelten, in denen Emotion, Fitness, ökonomische Erträge nicht mehr geschieden sind.
Fazit: Hoffnungen und Grenzen
Neuer Technik wohnt immer ein Anflug inne, zusätzlich bislang ungenutzte Potentialität zu erschliessen, womit sich bislang nicht verfügbare Handlungsmöglichkeiten eröffnen würden. Sich seine Fahrkarte mit einem Dialogsystem zu kaufen, ist schöner als unter Zeitnot in der Warteschlange am Bahnhofsschalter zu stehen. Es ist besser, von bots über Abfahrtsverzögerung vorab informiert zu sein, statt am Bahnsteig zu warten. Technik kann Alltagsprobleme reduzieren, beseitigen kann sie sie kaum, sonst gäbe es keine Verspätungen. Für die Beurteilung der Technik dominierten bislang zwei Linien, die eine besagt, mehr Technik minimiert die Fehlerquellen und Schwächen, die durch Menschen in der Welt sind, die andere warnt vor dem Verschwinden des Menschen, seiner Individualität und Kreativität. Die vorgestellten Bücher thematisieren unerwartet eine andere, eine grundlegende Gesellschaftskritik, die an die 1970er- und die beginnenden 1980er-Jahre im Soziologiestudium erinnert. Medien dienen nicht nur, Medien kontrollieren auch und die Nutzung von Medien erweist sich als neue Form der Wertschöpfung, bislang unterstellte Koordinaten des Sozialen werden neu justiert. Da kann es hilfreich sein, die Grundthesen von Karl Marx, Werner Sombart, Joseph Schumpeter, Max Weber und David Harvey nachzulesen. Trends zur Monopolisierung sind unübersehbar, die moderne Plattformökonomie funktioniert mit wachsender Grösse, die Nutzung von Daten setzt immer den Zugriff auf riesige Datenmengen voraus. Die Datensammlung der GAFAM (Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft) steht für nahezu grenzenlose Datenmengen und diese machen die Unternehmen wiederrum qua gewachsener Grösse zusehends attraktiver. Grosse Datenmengen sind die Basis der KI, deshalb werden Daten gesammelt und wo möglich auch monopolisiert. Dritte werden von der freien und gegebenenfalls auch von einer entgeltlichen Nutzung ausgeschlossen. Dies ist plausibel, denn wenn Daten Waren vergleichbar Werte repräsentieren, macht der Ausschluss Dritter Sinn und mit der Verfügbarkeit über Datenbestände geht eine enorme Machtkonzentration einher. Schon heute dürfte es kaum ein europäisches Unternehmen geben, das in der Lage wäre, eine Konkurrenz zu Google aufzubauen. Die Eingriffsmöglichkeiten im Sinne demokratischer Kontrolle (Stichwort: Twitter bei Musk) sind mangelhaft. Die Unübersichtlichkeit bei der Steuerung gesellschaftlicher politischer und wirtschaftlicher Prozesse wächst, dies ist kein theoretisches Problem mehr, sondern es ist hochaktuell. Die Maschinentechnik der KI eliminiert eben nicht nur menschliche Schwachstellen, sie schafft neue Verhältnisse. Das KI gesteuerte Auto macht dies kenntlich: es ist auf Effizienz (welche?) und nicht mehr vorrangig auf das Fahrgefühl potentieller Lenker:innen ausgelegt. Die Werbung für «Aus Freude am Fahren» wird deklassiert. Die «Prothetisierung» ersetzt den Akteur Menschen. Diese fungieren seit Arnold Gehlen (1957) als «Mängelwesen» (ebd., 7). Der Prozess der Entlastung des Menschen hat drei Stufen (19). Deshalb bedienen sich Menschen entwicklungsgeschichtlich zunächst diverser Werkzeuge. Hierbei üben Menschen noch die Kontrolle über die ablaufenden Prozesse aus. Mit dem Übergang zur Arbeit- und Kraftmaschine, ändert sich das, jetzt ist die ‚physische Kraft objektiviert‘ und beim Automaten wird nun auch der geistige Aufwand ‚entbehrlich‘. Mit dem Übergang zum Automaten verlässt der Mensch seine Rolle als aktiver Gestalter, es wird delegiert. Die verfolgten Zwecke geraten aus dem Blick der Analyse.Wenn nun aber komplexe Prozesse, die auf einer Bündelung von Informationen gründen, beschleunigt werden, dann werden die Wirkungen der 'Compression of Space and Time' wie sie David Harvey (1990, 260 – 308) beschrieb sichtbar, d.h. unübersehbar das «Leben im 'jetzt'» (Tully 2014, 246) aufgewertet, und in der Tat drängt sich mit der Digitalisierung alles, was aktuell ist, in den Vordergrund. Perspektivisches Denken ist wohl nicht Sache der Maschine. Die Frage ist, können Maschinen auf Datenagglomeraten basierend, sinnvolle Entscheidungen für alle treffen? Kaum. Mithin wird die KI die zentralen Probleme unserer Tage (Ungleichheit, Klima, regionale und globale Konflikte) nicht lösen. Die Probleme sind Ergebnis von bislang verfolgten Interessen. KI kann hierfür keine Lösung offerieren. Sie kann aber viele Abläufe beschleunigen, sie kann bündeln und im Interesse ihrer Anwender effektivieren.