1. Interdisziplinäre Perspektiven auf Lehr- und Lernprozesse in der digitalen Welt
Dieses Themenheft dient der Sammlung interdisziplinärer Perspektiven auf grenzüberschreitende und zukunftsgerichtete Prozesse des Lehrens und Lernens in der Kultur der Digitalität, die Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsfragen gleichermassen betreffen.
Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsdebatten sowie die Bedeutung von Bildung für die Umsetzung dieser Ansprüche wurden bereits früh zusammengedacht. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Brundtland-Report (WCED 1987). Während Umwelt- und Entwicklungsinteressen lange Zeit als Gegensätze verstanden wurden, wurden beide Problemdimensionen im Rahmen des Leitbilds «nachhaltiger Entwicklung» in einer für die weitere internationale Debatte entscheidenden Weise zum ersten Mal systematisch miteinander verknüpft. Das gelang durch zwei diskursive Verschiebungen: Zum einen wurde das bis dahin auf die Nutzung von Umweltressourcen fokussierte Nachhaltigkeitskonzept in ein auf die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse (heutiger und zukünftiger Generationen) bezogenes Nachhaltigkeitsverständnis transformiert. Zum anderen wurde das Konzept der ‹ökologischen Grenzen wirtschaftlichen Wachstums› in ein Konzept der ‹Grenzen bisheriger Technologien und gesellschaftlicher Organisationsformen› für nachhaltige Wirtschafts- und Lebensformen umdefiniert. Daraus ergab sich die Forderung nach einer ökologischen Modernisierung von Technologie, Wirtschaft und Konsum und nach einem effizienten, globalen Ressourcenmanagement, um ein «nachhaltiges Wachstum» zu ermöglichen (vgl. Brand 2021). Auch wenn das im Konzept nachhaltiger Entwicklung zunächst implizierte lineare, eurozentrische Verständnis von (kapitalistisch-industrieller) Entwicklung und die Fokussierung auf Wachstum inzwischen von vielen Seiten in Frage gestellt wird, so gilt es seither doch als unverzichtbar, Umwelt- und Gerechtigkeitsprinzipien als konstitutive, eng miteinander verknüpfte Elemente einer zukunftsfähigen Entwicklung zu thematisieren.
Die Verschränkung zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung hingegen wird erst seit kurzem diskutiert (vgl. WBGU 2019). Der Prozess der Digitalisierung hat sich in den vergangenen 20 Jahren in einer beispiellosen Breite und Tiefe vollzogen. Er beeinflusst sämtliche wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Systeme in profunder Weise und «entfaltet eine immer größere transformative Wucht, die den Menschen, die Gesellschaften und den Planeten zunehmend fundamental beeinflusst und daher gestaltet werden muss» (WBGU 2019, 1). Als wesentlicher Bestandteil globaler Beschleunigungsprozesse ist ein «neuer kultureller Möglichkeitsraum» (Stalder 2021) entstanden, der im Wesentlichen durch digitale Medien geprägt ist. Felix Stalder bringt den Begriff der Digitalität als kulturelle Rahmung in den Diskurs ein: Digitalität entspricht nicht dem Verständnis von Digitalisierung im Sinne technologischer Entwicklung, der Erfassung und Speicherung von Daten oder der Automatisierung von Abläufen. Vielmehr bezieht sie sich auf kulturelle und gesellschaftliche Realitäten und Lebensformen, die mit der Digitalisierung einhergehen und diese im Wechselspiel wiederum ermöglichen (Hauck-Thum und Noller 2021). Die Konturen der Kultur der Digitalität gerade auch für den Bildungsbereich zu bestimmen, stellt eine neue und zugleich kontinuierliche Aufgabe dar, da die ihr zugrundeliegenden Prozesse noch nicht in Gänze bekannt sind und einem stetigen, dynamischen und radikalen Wandel unterliegen, der nicht nur sämtliche kulturelle Dimensionen umfasst, sondern auch das Verständnis von Kultur an sich verändert.
Ausgehend von einem Kulturbegriff, der
«nicht nur kulturelle Vielfalt und die Künste meint, sondern die ganze Lebensweise von Menschen im Netzwerk und Austausch mit ihrer Umwelt, ihren Gebrauch semiotischer Systeme und Medien sowie ihre Konstruktion von Welt und Werten» (Rippl 2019, 316),
verändern sich auch Bildungserfahrungen grundlegend. Sie werden nicht länger mit regulierbaren und individualisierten Lernprozessen gleichgesetzt, sondern sie erwachsen aus gemeinschaftlichen Prozessen. Durch die fortschreitende Digitalisierung ist soziales Handeln zunehmend in komplexe Technologien eingebunden. Gemeinschaften in Form sozialer Netzwerke und Plattformen gewinnen an Bedeutung und generieren neue kulturelle und sozial-kommunikative Praktiken, die sich wechselseitig konstituieren. Die diesem Prozess inhärente Kreativität und Produktivität gilt «in vielfältiger Weise als relevant in Bildungsprozessen» (Allert und Asmussen 2017, 32). Entsprechende Praktiken spielen an Schulen aber kaum eine Rolle, da digitale Medien hier lediglich zu den traditionellen hinzutreten. In der Kultur der Digitalität benötigen Kinder und Jugendliche jedoch weit mehr als Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien, sondern vielmehr auch Räume und Gelegenheiten zur kreativen und produktiven Auseinandersetzung mit relevanten Zielen, Themen und Methoden sowie zum wechselseitigen Austausch mit menschlichen und technischen Aktanten. Wird im Rahmen veränderter Lehr- und Lernprozesse verstärkt an das subjektive Bildungswissen von Kindern angeknüpft (Dahlhaus 2011), das in grossem Umfang aus informellen digital geprägten Umgebungen erwächst, erhöhen sich Gelegenheiten zur Bildungsteilhabe und herkunftsspezifische Bildungsungleichheiten können damit verringert werden (Heinz 2018). Diese neuen, digitalen Bildungserfahrungen werden vor allem dann bedeutsam, wenn es gelingt, mit ihnen die Grundlage für eine neue, dringend benötigte Handlungsfähigkeit zu legen.
Obwohl die Verantwortung des Bildungsbereiches im Kontext von Gerechtigkeit und nachhaltiger Entwicklung kaum mehr infrage gestellt wird, bleibt indes noch ungelöst, wie Bildungsprozesse gerecht und nachhaltig gestaltet werden können (vgl. WBGU 2019). Angesichts eines aufgeheizten Diskurses über Bildungsgerechtigkeit, der nicht zuletzt im Kontext der COVID-19 Pandemie mit Blick auf digital gestütztes Distanzlehren und -lernen geführt wird, gilt es, Begrifflichkeiten zu schärfen und Antworten auf Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsfragen in der Kultur der Digitalität zu formulieren.
In Anlehnung an das Leitbild nachhaltiger Entwicklung skizziert der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Gutachten «Unsere gemeinsame digitale Zukunft» (2019) in diesem Sinne das Konzept einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft. Nur wenn es gelänge, die digitalen Umbrüche in Richtung Nachhaltigkeit auszurichten, könne eine Nachhaltigkeitstransformation gelingen. Andernfalls drohe Digitalisierung «als Brandbeschleuniger von Wachstumsmustern zu wirken, die die planetarischen Leitplanken durchbrechen» (WBGU 2019, 1). In diesem Zusammenhang ist also in grundsätzlicher Weise zu klären, ob bzw. wie eine Kultur der Digitalität mit einer Kultur der Nachhaltigkeit in Einklang gebracht werden kann und wie das in Bildungskontexten zu reflektieren ist. Es kann dabei nicht darum gehen, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern Risiken und Potenziale auszuloten und transformative Pfade zu finden.
Offenkundig sind derartige Vorstellungen von Bildung an ethisch-normative Leitbilder geknüpft, die kontextuell immer wieder neu zu verhandeln sind und deren Zusammenspiel es in der Kultur der Digitalität noch zu klären gilt. Ihre Verknüpfungen sind von zahlreichen Dilemmata geprägt, denn Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit verfolgen vielfach unterschiedliche, teils kaum zu vereinbarende Zielhorizonte und Interessen. Letztendlich bestimmt aber der Faktor Kultur, «welchen Typus einer nachhaltigen Gesellschaft man schaffen möchte» (Johns-Putra et al. 2017, 4) und welche «moralischen, ethischen und sozialen Optionen bestehen, um die ausgehandelten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen» (Rippl 2019, 315). Das interdependente Verständnis von Nachhaltigkeit, Digitalität und Gerechtigkeit als Ausgangspunkt und Ziel schulischer Transformationsprozesse wird für Bildungsinstitutionen zur zentralen Aufgabe, der aufgrund ihrer Komplexität nur interdisziplinär begegnet werden kann.
2. Beiträge
Autor:innen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen nehmen in ihren Beiträgen deshalb Perspektivierungen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung vor und leisten einen Beitrag zur Entwicklung einer gemeinsamen Vision, die letztendlich in der Frage mündet: Wie wollen wir in Zukunft leben und was müssen wir jetzt dafür tun?
Die Strukturierung im vorliegenden Themenheft erfolgt nach sechs Denkräumen:
Denkraum 1 «Nachhaltigkeit und Digitalität» eröffnet den Diskurs zum Spannungsverhältnis zwischen Ansätzen von Bildung für nachhaltige Entwicklung und Kultur der Digitalität und entfaltet theoretische und anwendungsbezogene Perspektiven in medienpädagogischen bzw. -didaktischen Kontexten (Kminek und Wahl 2023; Rau und Rieckmann 2023; Hoiß 2023).
Denkraum 2 (Schulkultur-Lernkultur) geht der Frage nach, wie Bildungserfahrungen gerecht und nachhaltig gestaltet werden können (Hauck-Thum und Franz 2023; Weihmayer, Flämig, und Groth 2023).
Denkraum 3 (Digitale Transformation) beschäftigt sich mit Gelingensbedingungen und Merkmalen schulischer Transformationsprozesse im Kontext von Digitalität und Nachhaltigkeit (Autenrieth und Nickel 2023; Cafantaris, Brandau, und Hartong 2023; Pallesche 2023; Sliwka, Klopsch, und Deinhardt 2023).
Denkraum 4 (Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit) zeigt auf wie Gerechtigkeitsfragen im Kontext der Digitalität aufgegriffen und strukturell bearbeitet werden können (Heinz 2023; Kramer 2023; Dalhaus 2023; Neto Carvalho u. a. 2023).
Denkraum 5 (Didaktische Perspektivierungen) wagt einen Brückenschlag von den hohen theoretisch-konzeptionellen Ansprüchen in die konkrete didaktische Umsetzung hinein, etwa in der Arbeit mit literarischen Texten (Carell und Dannecker 2023; Hollerweger 2023).
Denkraum 6 (Soziale Interdependezen) versammelt Beiträge, die sich mit der Reflexion und Gestaltung von Lern- und Bildungssettings sowie konkreten Lehr-Lern-Formaten im Kontext einer gerechten, digitalen und nachhaltigen Bildung befassen (Verständig und Stricker 2023; Schreiber-Barsch, Curdt, und Lowitzki 2023; Grünberger 2023).
Das Themenheft bildet den Abschluss eines eineinhalbjährigen Prozesses, der es den Autor:innen ermöglichte, Beiträge einzureichen, die vorab mit einem Fachpublikum auf der gleichnamigen Tagung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München diskutiert und weiter entwickelt wurden. Bereits vor Tagungsbeginn standen die Beiträge als Videozusammenfassung auf der Tagungswebseite zur Verfügung, um das Zusammentreffen vor Ort für die Diskussion der Inhalte zu nutzen. Die Veröffentlichung erfolgt nun im Anschluss an ein offenes und transparentes Double-Peer-Review-Verfahren. Dadurch wurden Räume für einen konstruktiven und detaillierten Austausch eröffnet, von denen insbesondere Nachwuchswissenschaftler:innen profitieren konnten.