Im Sog der Beschleunigung

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Leineweber, Christian. 2021. „Im Sog Der Beschleunigung“. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Nr. Reviews - Rezensionen (Januar). https://doi.org/10.21240/mpaed/XX/2021.01.20.X.

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Abstract

Rezension zu

Görland, Stephan O. 2020. Medien, Zeit und Beschleunigung: Mobile Mediennutzung in Interimszeiten. Medien • Kultur • Kommunikation. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29216-4.
https://doi.org/10.21240/mpaed/XX/2021.01.20.X

Im Sog der Beschleunigung

Auch wenn sich die Digitalisierung unserer Gegenwartsgesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen und zum Teil mit unterschiedlichen Deutungsmustern analysieren lässt, scheint es eine nicht mehr von der Hand zu weisende Verallgemeinerung zu sein, dass mit ihr eine Entgrenzung von Raum und Zeit einhergeht. Bereits vor über 20 Jahren beobachtete der Soziologe Zygmunt Bauman, dass sich im «Softwareuniversum auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigter Daten [...] jeder Raum im wahrsten Sinne des Wortes ohne ‚Zeitverlust‘ überwinden» (Bauman 2003, 140) lasse. Damit verbunden sind Erfahrungen der Beschleunigung (vgl. Rosa 2005), die zunehmend das Gefühl erwecken, dass lebensweltliche Prozesse sich zunehmend verdichten (vgl. Weyer 2019).

Diese Tendenzen konfrontieren die Medienpädagogik mit dem Sachverhalt, dass sie gegenwärtig – ganz gegenteilig zum Thema Raum – das Thema Zeit bislang nur mit allzu großer Zurückhaltung angeht (zur vertiefenden Diskussion: vgl. Leineweber 2020, 59-63). Einen wichtigen Impuls zur Überwindung dieser Zurückhaltung liefert nun Stephan O. Görlands kommunikations- und medienwissenschaftliche Studie «Medien, Zeit und Beschleunigung», die die Frage nach dem Zusammenhang zwischen individueller Zeitwahrnehmung und Zeitgestaltung anhand einer empirischen Analyse moderner Mediennutzungsmuster klären will. Konkret geht es Görland dabei um die Nutzung mobiler Medien in Interimszeiten, das heißt, in solchen «Momenten, die zwischen Hauptaktivitäten liegen, wie zum Beispiel Warte- oder Reisesituationen» (Görland 2020, 5). Görlands Buch ist als Dissertation im Rahmen des DFG-Projekts «Mediated Times» an der Universität Rostock entstanden und kommt auf insgesamt 187 Seiten Text. Analytisch lässt sich das Buch in drei Teile gliedern: einen theoretischen Teil, einen begriffsbestimmenden Teil und einen empirischen Teil. Im Folgenden geht es mir darum, diese drei Teile zunächst inhaltlich aufzuarbeiten, um dann eine abschließende Gesamtdiskussion des Buches vornehmen zu können.

Zum Aufbau und Inhalt des Buches

Ausgangspunkt des Buches ist ein theoretischer Teil, dem Görland eine sogenannte Bottom-Up-Struktur zugrunde legt, die die Betrachtungen von Nutzungsmustern mobiler Medien (Mikroebene) über die Zeitlichkeit von Medien und medialen Praktiken (Mesoebene) hin zur Beobachtung sich beschleunigender Gesellschaftsprozesse (Makroebene) verlaufen lässt. Bezugnehmend auf die deutsch- und englischsprachigen Diskurse der Kommunikations- und Medienwissenschaft sieht der Verfasser das Potenzial mobiler Medien ganz grundsätzlich in ubiquitären, ortsflexiblen und permanenten Nutzungsmöglichkeiten (vgl. Kap. 2 bzw. Görland 2020, 9-20). Mobile Medien fungieren in diesem Sinne als «portable und multimediale Geräte [...], die es permanent ermöglichen, in verschiedenen Kontexten wechselseitige Kommunikation zu betreiben» (ebd., 19). Ihr Potenzial ist demzufolge im Sozialen verortet. Die Frage nach individueller Zeitwahrnehmung und Zeitgestaltung ist unter solchen Voraussetzungen nur mit einem Blick auf soziale Dimensionen zu beantworten.

Für die soziale Rahmung individueller Zeitwahrnehmungen und Zeitgestaltungen (vgl. Kap. 3 bzw. Görland 2020, 21-42) greift Görland konsequenterweise auf das Motiv der Sozialtheorie zurück, Zeit als «soziale Angelegenheit» (Durkheim 1998, 28) bzw. als soziale Konstruktion zu verstehen. Eine zentrale Implikation dieses Verständnisses lautet, dass man Zeit nicht als einen allgemein gültig zu definierenden Begriff denken kann, sondern vielmehr als Konzept deuten muss, das dazu dient, vielfältige gesellschaftliche Prozesse organisieren, koordinieren oder synchronisieren zu können. Damit verbunden ist eine zeitliche Linearität, die gemäß Görland Struktur, Ordnung und Orientierung «in sich wandelnden Umständen» verspricht (Görland 2020, 24). Über diese Perspektive hinaus akzentuiert der Verfasser einerseits, dass der lineare Charakter von Zeit prägend für klassische kommunikationswissenschaftliche Diskurse um Zeit und Medien sei, die ganz wesentlich die mediale Struktur der Alltagswelt, Formen und Muster zeitlicher Synchronisation sowie das Phänomen der Langeweile zentrieren (vgl. ebd., 26). Andererseits habe sich das Verhältnis von Zeit und Medien jedoch gewandelt, weil insbesondere die Nutzungsmöglichkeiten mobiler Medien den linearen Charakter von Zeit aufzulösen scheinen (vgl. ebd., 31). Paradigmatisch dafür werden genuin moderne Praktiken angeführt, wie die zeitliche Über­schneidung von Tätigkeiten (Multitasking), neuartige Möglichkeiten des Abbruchs und der Wiederaufnahme von medialen Nutzungsepisoden (Aufsplitten und Fragmentieren) sowie ritualisierte Überprüfungen, ob neue Nachrichten eingegangen oder Aktualisierungen verfügbar sind (Checken) (vgl. ebd., 32). Die Nutzung mobiler Medien repräsentiert folglich den «zentrale[n] Orientierungspunkt einer neu präfigurierenden Zeitordnung mit einer starken Gegenwartsbetonung» (ebd., 41).

Hierbei handelt es sich um einen bedeutsamen Orientierungspunkt, der Görland schließlich ins theoretische Feld der Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung führt (vgl. Kap. 4 bzw. Görland 2020, 43-62), so dass die gegenwärtig steigende Geschwindigkeit von Kommunikationsprozessen und eine damit verbundene Zunahme an zu bewältigenden Informationsmengen ins Zentrum der Analyse rücken (vgl. ebd., 46). Beobachtet wird hierbei vor allem, dass durch die Permanenz des Medialen ein «Fluss von Informations- und Kommunikationsschwall» entstehe (ebd., 62). Medien tragen in diesem Sinne immer zur Realisierung, aber auch zur Potenzierung von kommunikativen Handlungsräumen bei. Insofern sind sie gemäß Görland immer schon «Ausdruck des gesellschaftlichen Chronos und die Antwort zugleich» (ebd., 61). Ihr Gewicht erhält diese Beobachtung vor allem deshalb, weil insbesondere mobile Medien dazu beitragen, dass beschleunigte Kommunikationsprozesse Einzug in individuelle Alltagswelten erhalten, womit es für Görland zuvorderst zur Frage wird, wie sich Beschleunigung innerhalb der individuellen «Mediennutzung wirklich konstituiert und vor allem in welchen Situationen diese am ehesten erfahrbar wird» (ebd., 62).

Aufbauend auf diesen theoretischen Überlegungen folgen einige begriffsbestimmende Sondierungen, die für den weiteren Verlauf der Studie Görlands relevant erscheinen. Anhand konkreter Fallbeispiele und deren Einordnung mithilfe (größtenteils) kommunikationswissenschaftlicher Quellen schärft Görland zunächst die Konturen seines eigentlichen Untersuchungsgegenstandes: Interimszeiten (vgl. Kap. 5 bzw. Görland 2020, 63-89). Als paradigmatisch für Interimszeiten werden Reisezeiten im Flugzeug oder im Bus, Momente der Langeweile oder Wartezeiten genannt, deren Überbrückung durch die Nutzung medialer Angebote möglich ist, so dass sich im passiven «Zwischendurch-Charakter» aktive «Zeitspannen» (ebd., 89) entfalten können. Interimszeiten repräsentieren demzufolge Möglichkeitsräume für «Mediennutzungsepisoden» (ebd., 63), die sich zwischen eigentlich nachgegangen Praktiken eröffnen. Gerade die (durch die Nutzung mobiler Medien bewirkte) Entgrenzung von Raum und Zeit setzt in diesem Sinne eine Vielzahl an Potenzialen frei, Interimszeiten aus Sicht der eigenen Empfindungen aktiv und produktiv zu gestalten.

Die Annahme, dass das aktive Subjekt ein geeigneter Adressat von Interimszeiten im Medialen ist, führt Görland schließlich zur Präzisierung seines weiteren Forschungsinteresses (vgl. Kap. 6 bzw. Görland 2020, 91-97), das durch die Frage geleitet wird, inwieweit ein Zusammenhang zwischen Zeiterleben und der Nutzung mobiler Medien in Interimszeiten bestehe. Dieser Frage will der Verfasser anhand der Thematisierung zweier Dimensionen empirisch begegnen: zum einen anhand der Thematisierung einer Nutzungsdimension, die nach den Mustern und Motiven mobiler Interimszeiten fragt; zum anderen anhand der Thematisierung einer Temporaldimension, die konkrete Zeitpraktiken betrachten lässt.

Alles in allem ist damit der Weg für eine inhaltsreiche empirische Analyse geebnet, den Görland mittels einer Triangulation dreier verschiedener Methoden bestreitet: erstens einer In-Situ-Befragung auf Basis eines Fragebogens, der direkt in der Situation eines Interimszeiterlebens eingesetzt wird, zweitens einer Befragung nach der Experience-Sampling-Methode, bei der Probandinnen und Probanden eine Befragung mehrmals am Tag auf mobilen Endgeräten ausfüllen, sowie drittens leitfadengestützter Interviews, um die qualitativ erhobenen Da­ten der beiden ersten Methoden letztlich qualitativ plausibilisieren zu können (vgl. Kap. 7 bzw. Görland 2020, 99-124).

Görland folgt damit einerseits dem derzeit in geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu beobachtenden Trend, Theorien durch empirische Befunde auf den Prüfstand stellen und dabei das Prüfniveau durch innovative Ansätze und methodische Mixes möglichst hoch anzusetzen zu wollen. Andererseits reagiert er so auf beobachtete «methodische Herausforderungen» seines Untersuchungsgegenstandes, die «vergleichsweise hoch» liegen, weil «sowohl das Materialobjekt der Interimszeiten als auch die zeitlichen Umstände» einigen Spezifika unterliegen, «die schwierig zu operationalisieren» seien (ebd., 99). Mit durchgängig aufwendigen und komplizierten Auswertungsverfahren tastet sich Görland sukzessive an das Phänomen der Interim­s­zeiten heran (vgl. Kap. 8 bzw. Görland 2020, 125-165), um schließlich die Interpretation seiner Forschungs­bemühungen vorlegen zu können (vgl. Kap. 9 und 10 bzw. Görland 2020, 167-187). Dreh- und Angelpunkt dieser Interpretation ist die These, dass Interimszeiten vor allem durch die Nutzung kommunikativer Anwendungen (z.B. WhatsApp, Facebook, Jodel, SMS) geprägt seien (vgl. ebd., 168). Eine damit angenommene mediale Prägung der Interimszeiten sieht Görland durch die Permanenz mobiler Internetverbindungen ermöglicht, was Subjekte auf der Ebene ihres Erlebens und Handelns die spezifisch medialen Praktiken des Multitaskings, Aufsplittens, Fragmentierens und Checkens aufnehmen und somit die originäre «Ereignislosigkeit» (ebd.) des Dazwischens füllen lässt. Das Zeiterleben in Interimszeiten ist damit durch die Nutzung mobiler Medien verkürzt und folglich durch das Phänomen der Beschleunigung entscheidend geprägt.

Diskussion: Von der Theorie zur Empirie – und zurück?

Görlands Studie nimmt ein Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch. Sie sei «die erste ihrer Art, indem sie versucht soziale Beschleunigung im Kontext mobiler Mediennutzung zu betrachten» (ebd., 174). Zur Einschätzung ihrer Qualität ist es deshalb zunächst lohnenswert, einen detaillierten Blick auf Hartmut Rosas Gegenwartsdiagnose der sozialen Beschleunigung zu werfen. Der Kern dieser Diagnose liegt in der Annahme, dass moderne Gesellschaften ihre Struktur nur durch ökonomisches Wachstum aufrechterhalten können (vgl. Rosa 2005). Konstitutiv für dieses Wachstum sei das Zusammenspiel zwischen technischen Innovationen und deren intendierte Beschleunigung, definiert als «Mengensteigerung pro Zeiteinheit» (ebd., 115). In der Tradition der Kritischen Theorie stehend, profiliert sich Rosas Diagnose maßgeblich durch einen zu Trage gebrachten Kulturpessimismus, der durch die Beobachtung genährt wird, dass moderne Subjekte gefühlt über immer weniger Zeit verfügen (vgl. ebd., 11). Die Beschleunigungsdiagnose thematisiert in diesem Sinne die Problematik sich vervielfältigender Handlungsräume (Kontingenz), die in letzter Konsequenz zu einer Auflösung von fixen Handlungssicherheiten und Orientierungsmustern führt und normative Vorstellungen wie eine freie und selbstbestimmte Lebensführung plakativ in Frage stellen lässt (zur vertiefenden Diskussion: vgl. Leineweber 2020). Paradigmatisch dafür steht beispielsweise das von Rosa diagnostizierte Slippery-Slopes-Syndrom, das sich in der Grundangst der Subjekte niederschlägt, in verschiedenen Bereichen ihres Lebens auf rutschigen Abhängen zu stehen, das heißt, sich immer wieder neuen Handlungsbedingungen stellen zu müssen, Anschlusschancen zu verpassen oder gar in Rückstand zu geraten (vgl. Rosa 2005, 284f.). Spätestens mit der Beschleunigungsdiagnose der modernen Gesellschaft werden Betrachtungen zur Zeit zu einer Angelegenheit der Zeit erlebenden und in der Zeit handelnden Subjekte.

Görlands Studie begegnet diesem Fokus auf das erlebende und handelnde Subjekt mit einer Gegenüberstellung von medien- und kommunikationswissenschaftlich motivierten Überlegungen einerseits und einer empirischen Prüfung der Beschleunigungsdiagnose andererseits. Diese Vorgehensweise sieht er als eine zwingende Konsequenz dessen, dass das von Rosa sozialtheoretisch ergründete Grundgerüst der Beschleunigung weitestgehend «das kommunikative Potenzial von Medien unhinterfragt» (Görland 2020, 184) lässt. Berücksichtigt man dieses Potenzial hingegen, so lässt sich die durch mobile Medien möglich werdende permanente Internetverbindung als «Taktgeber der Mediennutzung» (ebd., 178) verstehen, die dazu führt, den Unterbrechungscharakter der Interimszeiten überbrücken bzw. angenehmer gestalten zu können und damit letztlich als beschleunigt wahrnehmbar erscheinen zu lassen. Zur Plausibilisierung dieses Argumentationsmotivs eignet sich das Zeiterleben einer Probandin Görlands – die 23 jährige Jenny, die die Struktur des beschleunigten Zeiterlebens auf Basis des Medialen wie folgt beschreibt: «Naja, also wenn ich zum Beispiel beim Arzt sitze und ein Buch oder ein Handy da habe, vergeht die Wartezeit deutlich schneller, als wenn ich einfach nur da sitze (lachend) und die anderen Kranken angucke» (ebd., 180).

Görlands Betrachtungen liefern damit nicht zu unterschätzende Impulse, um das theoretisch abstrakt anmutende Phänomen der Beschleunigung auf der Ebene des qualitativen Zeiterlebens und -handelns greifen und verstehen zu können. Gleichsam eröffnen sie den Horizont für die Frage, welchen Einfluss die «Beschleunigungsrationalität» (Gamm 2000, 299) der modernen Gesellschaft auf ihre Subjekte nimmt. Blickt man unter dieser Voraussetzung vom Stand der Sozialtheorie auf die Studie Görlands, so ist konkret danach zu fragen, welchen Einfluss sozial konstituierte Zeitstrukturen auf die Beschaffenheit der Subjekte nehmen. Wegweisend für diese Frage ist z.B. die in Norbert Elias‘ viel beachteter Studie Über die Zeit (1988) explorierte Verbindung zwischen sozialen Zeitkonstruktionen und individuellen Selbstregulationen. Diese Verbindung lässt den Umgang mit Zeit als affiziert von terminlichen Absprachen oder Stresserfahrungen durch Zeitdruck betrachten und folglich unsere Umgangsmuster mit Zeit als eine Persönlichkeitsstruktur deuten, die «nicht weniger zwingend als biologische Eigentümlichkeiten und doch sozial erworben» ist (ebd., 122). Soziale Strukturen gehen auf diese Weise in eine «zweite Natur» des Menschen über und werden so zu einem festen Teil ihres Habitus (ebd., 117). Zeit nimmt so den Charakter einer Machtstruktur an, die auf sozialer Ebene generiert wird und auf individueller Ebene Druck ausübt (vgl. Nowotny 1993, 147). Ebendiese Machtstruktur ist es auch, die Rosa mit seiner bereits erwähnten Diagnose des Slippery-Slopes-Syndroms vor Augen hat und die Görland schließlich mit «der Permanenz der Internetverbindung» beantwortet sieht, welche eine «24/7-Synchronisation mit der Gesellschaft» (Görland 2020, 179) zulasse.

Es ist erstaunlich, dass Görlands Studie auf diese Weise dazu sensibilisiert, sich zu fragen, warum eine solche ubiquitäre Synchronisation überhaupt sinnvoll erscheint. Während man diese Frage im Anschluss an Rosa mit einem Verweis auf die ökonomischen Zwänge der Beschleunigungsgesellschaft beantworten müsste (Rosa 2005, 256-310), neigt der Blick auf die individuellen Nutzungsmuster mobiler Medien dazu, die hedonistischen Tendenzen einer Erlebnisgesellschaft (vgl. Schulze 1992) zu akzentuieren, in der Medien dabei helfen, «Zeiten ‚angenehm‘ zu gestalten» (Görland 2020, 180). Diese Beobachtung lässt schließlich in einen Raum vordringen, der für solche bildungswissenschaftlichen Betrachtungen relevant scheint, die daran interessiert sind, inwiefern gesellschaftliche Machtstrukturen (bzw. hier konkret: Machtstrukturen sozialer Konstruktionen von Zeit) im individuellen Medienhandeln fortgeführt werden und wie eben solche Machtstrukturen umschifft werden könnten. Nicht zuletzt konfrontiert die Pointe der Studie Görlands, mobile Medien helfen dabei Interimszeiten angenehmer gestalten und die Zeit beschleunigter erleben zu lassen, gerade auch Bestrebungen der Medienpädagogik, die derzeit von der bildungstheoretisch geprägten Annahme ausgehen müssen, dass Bildungsprozesse auf das individuelle Erleben und Aushalten von Krisen, Unsicherheiten und Irritationen angewiesen sind (vgl. übergreifend z. B. Thompson 2009).

Vor dem Hintergrund der hier aufkeimenden Gegenüberstellung von Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten mag es auch nicht weiter verwundern, dass zumindest Görlands Probandinnen und Probanden nicht von Lernbewegungen in Interimszeiten berichten, was der Zielvorstellung des mobilen Lernens indirekt eine Absage erteilen müsste. So scheint die Lektüre der Studie Görlands vor allem auch beachtenswert für jene Reflexionen, die an der Ermöglichung von Lern- und Bildungsprozessen durch mobile Medien interessiert sind und diese Ermöglichung unter den sich verstärkenden Beschleunigungstendenzen des modernen subjektiven Erlebens und Handelns ausrichten möchten.

Literatur

Bauman, Zygmunt. 2003. Flüchtige Moderne. Dt. Erstausg., 1. Aufl. zum 40jährigen Bestehen. 40 Jahre Edition Suhrkamp. Frankfurt am Main: Surhkamp.

Durkheim, Émile. 1998. Die elementaren Formen des religiösen Lebens. [2nd print.]. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft stw 1125. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Elias, Norbert. 1988. Über die Zeit. Übersetzt von Michael Schröter. 12. Auflage. Arbeiten zur Wissenssoziologie 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Gamm, Gerhard. 2000. Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1457. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Görland, Stephan O. 2020. Medien, Zeit und Beschleunigung: Mobile Mediennutzung in Interimszeiten. Medien • Kultur • Kommunikation. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29216-4.

Leineweber, Christian. 2020. Die Verzeitlichung der Bildung: Selbstbestimmung im technisch-medialen Wandel. Bielefeld: transcript-Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839450192.

Nowotny, Helga. 1993. Eigenzeit - Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1052. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut. 2005. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Originalausg. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1760. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schulze, Gerhard. 1992. Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. 8. Aufl. Frankfurt am Main: Campus-Verlag.

Thompson, Christiane. 2009. Bildung und die Grenzen der Erfahrung: Randgänge der Bildungsphilosophie. Theorieforum Pädagogik 1. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh.

Weyer, Johannes. 2019. Die Echtzeitgesellschaft: Wie smarte Technik unser Leben steuert. Frankfurt am Main: Campus Verlag.